Die Schweiz braucht als kleines Land mitten in Europa geregelte Verhältnisse mit der EU. Die Gewerkschaften haben die bilateralen Verträge mit der EU von Beginn weg befürwortet. Das unter Einschluss ihres Herzstücks, der Personenfreizügigkeit. Die Bedingung dafür war ein neues System zum Schutz der Löhne, die sogenannten flankierenden Massnahmen. Die flankierenden Massnahmen zum Schutz der Löhne und die Haltung der Gewerkschaften waren mit ausschlaggebend dafür, dass die bilateralen Verträge von Beginn weg und auch in den verschiedenen Erweiterungsrunden in den Volksabstimmungen jeweils klar gutgeheissen wurden.
Die bilateralen Verträge mit der Personenfreizügigkeit haben Schluss gemacht mit der rechtlichen Diskriminierung eines Teils der arbeitenden Bevölkerung der Schweiz, nämlich der Menschen mit ausländischem Pass. Abgeschafft wurde insbesondere das menschenrechtswidrige Saisonnier-Statut. Wirtschaftlich hatte das System der Ausländerkontingentierung verbunden mit der rechtlichen Diskriminierung der betroffenen Beschäftigten zu einer staatlich geförderten Tieflohnpolitik in strukturschwachen Branchen wie der Landwirtschaft oder dem Gastgewerbe geführt. Wobei offen bleiben muss, ob ohne Kontingentierung mehr ausländische Arbeitskräfte in die Schweiz gekommen wären. Auch in den Jahren der Kontingentierung folgten die Wanderungsbewegungen der wirtschaftlichen Entwicklung.
Die SVP-Abschottungsinitiative (Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“) will die Personenfreizügigkeit als Herzstück der bilateralen Verträge mit der EU abschaffen. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Wahrnehmung schlägt die Initiative der SVP aber nicht vor, zu einer Steuerung der Zuwanderung nach dem schweizerischen Modell vor dem Inkrafttreten der Bilateralen zurückzukehren. Die Initiative ist viel extremer. Sie geht über die Kontingentierungspolitik früherer Jahrzehnte weit hinaus. Die Einwanderungspolitik der Schweiz vor den Bilateralen kannte nämlich den sogenannten „Inländervorrang“. Unter „Inländern“ wurde die ganze in der Schweiz ansässige Erwerbsbevölkerung verstanden unabhängig davon, ob sie über das Schweizer Bürgerrecht verfügt oder nicht. Und die Kontingente bezogen sich ausschliesslich auf die Immigration zusätzlich zur bereits hier ansässigen Bevölkerung.
Die SVP-Initiative will nun anstelle des früheren „Inländervorrangs“ neu einen „Schweizervorrang“ einführen, und die von der SVP vorgeschlagenen Kontingente beziehen sich nicht auf die Einwanderung, sondern auf die Gesamtzahl der Menschen mit ausländischem Pass. Die SVP macht dabei keinen Unterschied zwischen „Inländern“ mit ausländischem Pass, EU-Bürgern oder Staatsangehörigen irgendeines anderen Landes der Welt. Chinesen, Deutsche aber auch Menschen, die in der Schweiz geboren wurden, hier aufgewachsen sind und immer nur hier gelebt und gearbeitet, aber keinen Schweizer Pass haben („Inländer“ mit ausländischem Pass), werden von der SVP in den selben „Topf“ geworfen: Sie fallen unter dieselbe Kategorie der „Ausländer“, für die der Anspruch auf dauerhaften Aufenthalt, auf Familiennachzug und Sozialleistungen eingeschränkt werden kann. Für die in der Schweiz lebenden und erst recht für die hier geborenen Inländer mit ausländischem Pass bedeutet das nichts anderes als eine kollektive Entrechtung. Und für alle anderen, die in der Schweiz irgendwann einmal arbeiten und leben werden, eine massive Verschlechterung ihrer Rechtsstellung. Für die arbeitende Bevölkerung in der Schweiz, auch für jene mit Schweizer Pass, verheisst es nichts Gutes, wenn die Rechte eines Teils der Erwerbstätigen dermassen prekarisiert würden.
Die SVP-Initiative verlangt somit eine Ausländerpolitik, die es in der Schweiz bisher in dieser extremen Form nie gab. Historisch folgt die SVP-Initiative in ihrer Logik von Entrechtung und Ausgrenzung unmittelbar der sogenannten Schwarzenbach-Initiative aus dem Jahre 1970 und den „Überfremdungsinitiativen“ in ihrem Gefolge, die an der Urne alle verworfen wurden.
Die Gewerkschaften organisieren und vertreten die Interessen der arbeitenden Menschen in der Schweiz – unabhängig von der Farbe ihrer Pässe. Die Gewerkschaften kämpfen gegen ausländerfeindliche Hetze und dagegen, dass die Beschäftigen zum Nachteil aller gegeneinander ausgespielt werden.
Damit die Personenfreizügigkeit funktioniert und nicht zu Lohndumping missbraucht werden kann, braucht es einen wirksamen Schutz der Löhne. Hier gibt es Verbesserungsbedarf. Denn mit dem Schutz der Löhne werden auch die Arbeitsplätze verteidigt. Die Arbeit an dieser Aufgabe muss weitergeführt werden, statt den Menschen mit ausländischem Pass die Schuld an den Problemen zuzuschieben.
Die Personenfreizügigkeit aber ist grundsätzlich eine Errungenschaft, die zu verteidigen es sich lohnt. Eine entwickelte Wirtschaft – und eine entwickelte Gesellschaft – wird getragen von arbeitenden Menschen, denen die elementaren sozialen Rechte nicht vorenthalten werden dürfen. Der Rückfall in die systematische Diskriminierung eines bedeutenden Teils der Erwerbsbevölkerung würde die Schweiz politisch, volkswirtschaftlich und gesellschaftlich gewaltig zurückwerfen.
Deshalb handelt verantwortungslos, wer behauptet, die Annahme der SVP-Abschottungsinitiative würde folgenlos bleiben. Und wer davon ausgeht, dass die EU-Staaten die neue Diskriminierung ihrer Staatsangehörigen – der grösste Teil der Schweizer Beschäftigten mit ausländischem Pass stammt aus Ländern der EU – akzeptieren könnten, macht sich Illusionen. Die Annahme der SVP-Abschottungsinitiative wäre deshalb nicht nur diskriminierend, sondern auch dumm.