Wir müssen in Visionen, Utopien und Alternativen denken können aber auch wissen, wie man die Verhältnisse konkret und im hier und jetzt ändern kann. Darum muss die SP Lösungen für konkrete Probleme des Alltags wie Digitalisierung oder steigende Mieten aufzeigen. Aber sie braucht auch den Mut, die grossen Fragen zu stellen: Welche Wirtschaft wollen wir überhaupt? Befreiung von der Arbeit oder in der Arbeit? Wieviel und welches Wachstum wollen wir? Welches Verhältnis zwischen Markt und Staat?

In den Wahlen 1995 erreichte die SP als stärkste Partei einen Wähleranteil von 21,8 Prozent, die SVP lag damals bei 14,9 Prozent. Bei den letzten Wahlen – über zwanzig Jahre später – erzielte die SP 18,8 Prozent, die SVP 29,4 Prozent. In der gleichen Zeit hat die SP tausende Mitglieder verloren. Das Bild zeigt sich weltweit: Triumphierende Rechtsnationalisten, schwächelnde Sozialdemokratie.

In den 1980er Jahren wähnte sich der britische Soziologe Ralf Dahrendorf am Ende des demokratischen Zeitalters. Das war durchaus anerkennend gemeint. Die Sozialdemokratie als Opfer des eigenen Erfolgs: Sie habe die demokratischen Institutionen geschaffen und geprägt. Und dank der sozialen Absicherung habe sich das Los der Menschen verbessert: «Noch nie haben so viele Menschen so breitgefächerte Möglichkeiten gehabt wie am Ende der sozialdemokratischen Epoche.»

Die SP gibt es noch und das Glas ist auch nicht halb leer: Die Mitgliederzahlen zeigen wieder nach oben, kantonale Wahlen verliefen ermutigend. Und vom Struktur- und Wertewandel blieben auch andere Parteien nicht unberührt. Alte Milieus haben sich aufgelöst, die Industriegesellschaft hat sich zur Dienstleistungsgesellschaft gewandelt, neue Berufe und neue politische Bewegungen sind entstanden. Hätte die SP darauf nicht reagiert, wäre sie heute wohl verschwunden. Denn – wie Wolf Biermann sagte: «Nur wer sich ändert, bleibt sich treu». Die SP ist zwar nicht mehr die Arbeiterpartei, aber immer noch die Partei der sozialen Gerechtigkeit.

Und die SP braucht es nach wie vor: Einkommens- und Vermögensunterschiede werden wieder grösser, mit der Digitalisierung steht ein gewaltiger Strukturwandel an. Globalisierung, Migration, Flüchtlingskrisen und Terrorismus fordern die offene und freie Gesellschaft heraus. Wer, wenn nicht die Sozialdemokratie, kann und will sich diesen Herausforderungen stellen?

Dazu braucht es die SP als starke Kraft – in der sich möglichst viele Menschen wieder erkennen. Nur so kann sie ihre Politik umsetzen, wie es die rot-grünen Städte zeigen. Nur wenige, dafür aber die richtigen Wählerinnen und Wähler reichen dazu nicht aus.

Das Problem der Sozialdemokratie formulierte Hans-Magnus Enzensberger schon 1978: «Die Stärke der linken Theorie (…) hat (…) mehr als anderthalb Jahrhunderte lang darin gelegen, dass sie auf einer positiven Utopie beruhte, der die Welt nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen hatte.» Diese positive Utopie ist der Linken abhandengekommen – die Verteidigung des Status Quo ist für eine fortschrittliche Kraft nur mässig attraktiv.

Wir brauchen also beides: Wir müssen in Visionen, Utopien und Alternativen denken können aber auch wissen, wie man die Verhältnisse konkret und im hier und jetzt ändern kann. Oder – um es mit der Kurzfassung der SPD zu sagen (obwohl die SPD wohl bei etlichen verpönt ist): «Wir erkennen Realitäten an, finden uns aber nicht mit den Verhältnissen ab, wie sie sind.» Wir brauchen kein entweder – oder, sondern ein geschickteres Zusammenspiel zwischen Programmatik und Pragmatik, zwischen Intellekt und Handwerk.

Das gilt auch für das zu erarbeitende neue Wirtschaftsprogramm. Die SP braucht konkrete Reformen und Vorschläge, wie die Digitalisierung positiv genutzt werden können. Sie muss Lösungen für konkrete Probleme des Alltags wie steigende Mieten aufzeigen. Aber sie braucht auch den Mut, die grossen Fragen zu stellen: Welche Wirtschaft wollen wir überhaupt? Befreiung von der Arbeit oder in der Arbeit? Wieviel und welches Wachstum wollen wir? Welches Verhältnis zwischen Markt und Staat?

Die SP muss dabei zeigen, dass sie nicht ein Gegensatz zur Wirtschaft ist, sondern ein wesentlicher Teil von ihr. Die Wirtschaft sind nicht Manager und Aktionärinnen, sondern wir alle: Als Arbeitnehmer oder sozial verantwortliche Unternehmerinnen, als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, als einfache Angestellte oder als Führungskräfte.

Der verstorbene Soziologe Ulrich Beck schrieb einst: «Ich weiß, dass die SPD nicht den Mut hat, die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit in und für Europa aufzuwerfen. Aber ich weiß auch, dass die SPD die einzige Partei ist, die dies könnte.» Die SP bleibt die Partei, die das Potenzial hat, die Verhältnisse zu verbessern. Für und mit den Menschen. 

Ansprechpartner:innen zu diesem Thema

Min Li Marti

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Nationalrätin ZH

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