Der Nationalfeiertag lädt uns jedes Jahr dazu ein, in die Vergangenheit zu schauen. Aber auch in die Gegenwart. Und natürlich in die Zukunft. Dazu passt bestens ein Zitat der Berner Frauenrechtlerin Marthe Gosteli: «Ohne Kenntnis der Geschichte gibt es keine Zukunft.»
Der Rütlischwur und als Grundstein der Demokratie auch die erste Bundesverfassung von 1848 sind wichtig für unser Land. Für die moderne Schweiz das noch wichtigere Jahr ist jedoch 1971. Erst dann ist unsere Demokratie nämlich komplett geworden.
Vor genau einem halben Jahrhundert also durften Frauen in der Schweiz erstmals als gleichwertige Bürgerinnen auf eidgenössischer Ebene wählen und abstimmen. Lassen Sie mich auch dazu noch eine frühe Frauenrechtlerin zitieren: «Ohne die Emanzipation der Frauen ist der Begriff der Demokratie nur Heuchelei und Lüge.» Gesagt hat dies die 1879 geborene Emilie Gourd (1879‐1946).
Unvollständige Demokratie
Die banale Erkenntnis, dass eine Demokratie ohne Frauenstimmrecht eine unvollständige Demokratie ist, ist allerdings noch viel älter. Sie stammt bereits aus der Antike. Das hat die heutige Langenthaler Gemeinderätin und Stadtchronistin Martina Moser in ihrer Rede zum 100‐Jahr‐Jubiläum des hiesigen Parlamentes ausgeführt. Ich wiederhole hier nicht alles. Nur so viel: In seiner Komödie namens «Frauen in der Volksversammlung», in der als Männer verkleidete Frauen mehr Demokratie schaffen wollen, forderte der griechische Dichter Aristophanes: «’Allgemeinwohl vor Eigennutz’. Mit anderen Worten: Eine Demokratie verdient erst dann das Etikett ‘Herrschaft des Volkes‘, wenn auch die Frauen das volle Mitwirkungsrecht in der Gesellschaft haben.»1
Kommen wir aus der Antike zurück – ins Jahr 1971. Damals haben die Schweizer am 7. Februar also endlich beschlossen, auch den Frauen das Stimmrecht zu geben. 65,7 Prozent der Männer sagten Ja zum «Bundesbeschluss über die Einführung des Frauenstimm‐ und Wahlrechts in eidgenössischen Angelegenheiten». Sieben Kantone (Ausserhoden, Innerrhoden, Glarus, Obwalden, Schwyz, St. Gallen, Thurgau und Uri) sagten Nein.
Und ja, Sie wissen es: Als letzter führte Appenzell Innerrhoden erst 1991 auf Geheiss des Bundesgerichts das Frauenstimmrecht ein. Ich war damals sieben – so alt wie meine Tochter heute. Eigentlich unvorstellbar.
Langenthal – Sie wissen auch dies bestimmt bereits – kennt das Frauenstimmrecht seit etwas mehr als 50 Jahren. Edwin Bucheli, ein SP‐Politiker, forderte 1967 dessen Einführung. Und bereits im Jahr darauf schafften es die ersten drei Frauen hier ins Parlament: Die Sozialdemokratin Marie Schaffer‐Murri, die gleich am meisten Stimmen von allen Gewählten erhielt. Bertha Steinmann‐Haltinner, ebenfalls von der SP. Und die Freisinnige Marianne Zurlinden – die 1975 dann als erste Frau den Grossen Gemeinderat auch präsidierte.2
Den Männern und Ständen abgerungen
Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass Frauen in der Schweiz erst seit 50 Jahren mitbestimmen können?
Anders als in vielen anderen Ländern Europas verdanken wir Schweizerinnen unsere politischen Rechte nämlich nicht den Erschütterungen durch Kriege. Die Frauenrechte hat uns auch niemand geschenkt. Nein, sie mussten in einem sehr langen Kampf und in viel Gedankenarbeiten, Aktionen und Kundgebungen den Männern und Ständen abgerungen werden.
Meine grosse Bewunderung, und insbesondere mein Dank, gilt heute darum all unseren Vorkämpferinnen. Und natürlich auch den vereinzelten Vorkämpfern.
Bereits um 1900 gründeten Frauen in der Schweiz erste lokale Komitees. Erst kämpften sie für eine bessere Bildung für Mädchen und Frauen, für den Schutz der Mütter und Kinder, für das Recht auf eigenes Geld sowie gegen Hürden im Beruf. Erste Anläufe für ein nationales, kantonales, lokales oder partielles Frauenstimmrecht scheiterten.
1928 zog dann die noch heute viel zitierte «Schnecke» durch Bern. Dieser riesige Demonstrationsumzug machte auf die quälend langsame männliche Politik aufmerksam.
Im Zweiten Weltkrieg setzten sich die Schweizerinnen im Landdienst, im freiwilligen Hilfsdienst, an der Heimatfront und in der Flüchtlingshilfe ein. Und sie übernahmen zu Hause, im öffentlichen Dienst und in Betrieben Aufgaben der Männer. Doch nach dem Krieg wollten die Aktivdienstler ihre Stellung zurück. Anders als vielenorts in Europa gab es für die Frauen nicht mal das Stimmrecht. Die Enttäuschung war riesig.
Keine neuen Pflichten ohne politische Rechte
Da realisierte die Arbeitsgemeinschaft der grossen Schweizer Frauenverbände, dass sie zu anderen Mitteln greifen muss. Ende der 1950er‐Jahre bot sich die Gelegenheit dazu.
Bundesrat und Parlament wollten die Frauen obligatorisch zum Zivilschutz verpflichten. Dagegen wehrten sich die politisch bewussten Schweizerinnen: Keine neuen Pflichten ohne politische Rechte. 1959 kam es deshalb zur ersten Abstimmung über die Einführung des Frauenstimmrechts. Diese scheiterte zwar am Volks‐ und Ständemehr. Doch gab es kantonale Erfolge in Waadt, Neuenburg und Genf.
Knapp zehn Jahre später wollten Bundesrat und Parlament die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnen. Allerdings mit dem Vorbehalt, dass Frauen nicht mitgemeint seien. Die Reaktionen darauf waren nun noch massiver: Frauen von links bis rechts protestierten und machten Druck für eine neue Abstimmung über das Frauenstimmrecht. Sie fand am 7. Februar 1971 statt. Das Ergebnis ist bekannt.
Kampf für echte Gleichstellung geht weiter
Doch der Kampf für die echte Gleichstellung von Frau und Mann dauert seither an. Ein wichtiger Schritt erfolgte 1996 mit dem Gleichstellungsgesetz. Darin ist die Lohngleichheit im Grundsatz verankert. Leider ist diese aber bis heute noch lange nicht erreicht.
Und auch bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie bei der Anerkennung von Pflegearbeit besteht noch immer grosser Handlungsbedarf. Dafür gingen vor zwei Jahren eine halbe Million Frauen und solidarische Männer am 2. Frauenstreik im ganzen Land auf die Strassen.
Doch gerade Corona zeigt uns aktuell unmissverständlich auf, welch grosse Lasten insbesondere Frauen noch immer tragen. Ob in der Pflege, bei der externen Kinderbetreuung oder in der ganz «normalen» Familienarbeit: Frauen verdienen mehr Zeit, Geld und Respekt – egal, wie jede und jeder Einzelne politisch auch ticken mag: Daran müssen wir weiterarbeiten!
Erinnern wir uns an unsere Vorkämpferinnen!
Erlauben Sie mir zu diesem Ausblick noch eine persönliche Anekdote: Was vor mehr als 100 Jahren bei vielen Frauen bereits für grossen Unmut und Unverständnis sorgte, tut es heute noch – gerade bei der jüngsten Generation. Als unsere siebenjährige Tochter kürzlich zu Hause die Einladung zu einer Frauenstimmrechts‐Ausstellung sah und las, verstand sie die Welt nicht mehr. Ich habe ihr dann versucht zu erklären, dass das Frauenstimmrecht jünger als ihr Grosi sei. Und dass ihr Urgrosi erst in meinem Alter – mit 37 Jahren – erstmals einen Stimmzettel ausfüllen durfte. Und überhaupt: Mama hätte vor 50 Jahren noch gar nicht im Bundeshaus mitbestimmen dürfen. Unsere Tochter schaute mich weiterhin ungläubig und mit fragenden Augen an: «Was?! Das kann doch nicht sein. Urgrosi durfte erst viel später als Urgrosspapa abstimmen gehen?!» Das sei doch «total ungerecht», sagte unsere Tochter.
Dieses Gespräch mit einer Erstklässlerin machte mir einmal mehr klar: Kinder haben ein sehr starkes Gerechtigkeitsempfinden und reagieren sensibel auf Ungerechtigkeiten. Und das lange Vorenthalten des Stimm‐ und Wahlrechts für Frauen war eine grosse Ungerechtigkeit. Vergessen wir das nicht. Und vor allem nicht den unermüdlichen Einsatz unserer Vorkämpferinnen.
Erinnern wir uns an sie. Dank ihnen können wir am heutigen Nationalfeiertag trotz allem die Einführung der echten Demokratie vor 50 Jahren feiern. Ohne diese Frauen – und ein paar Männer – wären wir, wäre die Schweiz, heute nämlich nicht so, wie sie ist.
1 Vgl. «Rede 100‐Jahr‐Jubiläum Parlament Langenthal», Martina Moser. 2019 und hier.
2 Vgl. «Rede 100‐Jahr‐Jubiläum Parlament Langenthal», Martina Moser. 2019.
Leicht gekürzte Rede von SP-Nationalrätin und SP-Bundeshausfraktionsvizepräsidentin Nadine Masshardt an der Bundesfeier am 1. August 2021 in Langenthal (BE). Es gilt das gesprochene Wort.