Dominik Landwehr
Die italienische Kleinstadt Domodossola liegt abgeschieden am Südende des Simplons. Doch so beschaulich die Kleinstadt, so dramatisch ist ihre Geschichte, die – was die geflüchteten Partisanen im zweiten Weltkrieg betrifft, eng mit dem Tessin verbandelt ist.
1944, Italien ist in den Händen Faschisten, die deutsche Wehrmacht hat Norditalien besetzt. In Domossola einigen sich die zerstrittenen italienischen Partisanengruppen Anfang September jedoch auf ein gemeinsames Vorgehen und schaffen das schier Unmögliche: Sie jagen die faschistischen Truppen aus dem Tal. Am 10. September 1944 proklamieren sie die «Republik Ossola» und beginnen in rasendem Tempo mit dem Aufbau einer demokratischen Zivilgesellschaft. Sie führen die Pressefreiheit ein, drucken eigene Briefmarken und organisieren Schulen. Präsident der provisorischen Regierung wird der spätere italienische Abgeordnete Ettore Tibaldi (1887-1968), der wie viele andere wegen des Partisanenaufstands aus dem Schweizer Asyl nach Domodossola zurückkehrt.
Enge Beziehungen zur Schweiz
Die Beziehungen der Partisanen zur Schweiz waren damals eng. Die Partisanen verkehrten beispielsweise mit den Sozialdemokraten Guglielmo Canevascini und Francesco Borella sowie mit dem Gemeindepräsidenten von Locarno, Giovan Battista Rusca. Diese Schweizer Politiker besuchten die Partisanenrepublik und sorgten dafür, dass die Schweizer Unterstützung für die freie Republik Ossola intensiviert wurde. «Die Kontakte bedeuteten eine zwar inoffizielle, aber wichtige Anerkennung des jungen Staats», sagt der Historiker Raphael Rues.
Bereits vor der Ausrufung der Republik Ossola spielte der Tessin für die Partisanen eine wichtige Rolle. Die Grenze war leicht zu überqueren, sodass das Tessin zur Drehscheibe des Widerstands gegen Deutsche und Faschisten wurde. «Es wurde informiert und koordiniert und immer wieder unbürokratisch geholfen», so Rues.
Mit der Ausrufung der Republik Ossola wuchs die Unterstützung aus der Schweiz sofort. Lebensmittel, Geld, sogar Waffen und Munition wurden geliefert. Gleichzeitig bauten die Tessiner und die Ossolaner rasch Wirtschaftsverbindungen auf, um Produkte in die Schweiz zu exportieren, denn die Region war nur zur Schweiz hin nicht vom Faschismus umschlossen.
Jähes Ende
Die Republik Ossola währt nicht lange. Bereits am 10. Oktober 1944 beginnen die faschistischen italienischen Verbände mit der Rückeroberung des Tals. Jetzt zeigen sich die Schwächen der Partisanen, die vergeblich auf Unterstützung der Alliierten gehofft haben und sich auf diese Art von Kampf nicht verstehen. Am 14. Oktober übernehmen die Faschisten wieder die Kontrolle über die Hauptstadt Domodossola, am 17. Oktober 1944 flieht ein Grossteil der Regierung und am 23. Oktober wird die Republik formell aufgelöst.
Viele Partisanen fallen. Wer kann, flüchtet über den Simplon oder das Onsernonetal in die Schweiz. So rettet sich im Kugelhagel der faschistischen Truppen am 18. Oktober eine grössere Gruppe von Partisanen in die Schweiz, wobei viele der 25’000 bis 30’000 Schuss auf Schweizer Boden einschlagen. Eine dieser Kugeln verletzt den Italiener Federico Marescotti aus Mailand tödlich. Ein zweites Opfer ist der jüdische Partisan Renzo Coen, der später im Spital von Locarno stirbt. Das Geschehen wird als «Battaglia dei Bagni di Craveggia» in die Geschichte eingehen.
Tessin zwischen Krise und Solidarität
Das Ende der Partisanenrepublik Ossola stürzte das Tessin in eine humanitäre Krise. Tausende Frauen und Kinder flüchteten aus Angst vor Vergeltungsmassnahmen in die Schweiz, und auch die Partisanen zogen sich ins Tessin zurück. Wer es nicht über die Grenze schaffte, wurde hingerichtet oder deportiert. Die Tessiner:innen zeigten sich solidarisch. Im Spital La carità von Locarno wurden die Partisanen behandelt – allein am 13. Oktober 1944 waren es beispielsweise über 50. «Ohne die Hilfe aus dem Tessin und dem Wallis wäre das Blutbad in der Region Ossola noch viel grösser geworden», so Rues.
«Die Solidarität der Schweizer, vor allem der Tessiner, ist bis heute nicht vergessen», weiss auch Gianfranco Fradelizio. Sein Vater Luigi wurde 1944 erschossen, als er – unbewaffnet – mit einem Maultier Lebensmittel für die Partisanen transportierte. Gianfranco Fradelizio hat das Erbe des Vaters Zeit seines Lebens hochgehalten und präsidierte bis letztes Jahr die Partisanen-Vereinigung in Domodossola.
An die Schlacht vor 80 Jahren und die beiden getöteten Partisanen Marescotti und Coen erinnert eine einfache Plakette, die Ende Juli dieses Jahres in einer feierlichen Zeremonie eingeweiht wurde. Der Text stammt von Gianfranco Fradelizio und könnte nicht treffender sein: «Für die Gerechtigkeit sind sie aufgestanden - für die Freiheit sind sie gefallen».