Heute können Organe nur dann entnommen werden, wenn die Spendenbereitschaft zu Lebzeiten im Nationalen Organspenderegister oder auf einem Spende-Ausweis deklariert wurde. Wie beurteilt ihr die heutige Zustimmungslösung?
Flavia: In der Schweiz fehlen lebensrettende Organe. Aktuell warten 1’434 Menschen auf ein Organ, darunter 16 Kinder unter 16 Jahren. Alle fünf Tage stirbt ein Mensch, weil das passende Organ nicht rechtzeitig gefunden werden konnte. Weil zu wenig Menschen ihren Willen zu Lebzeiten festhalten, müssen die Angehörigen für die verstorbene Person entscheiden. Unter Schock und in Trauer entscheiden sie sich dann in drei von fünf Fällen gegen eine Organentnahme.
Elsbeth: Die heutige Regelung ist der richtige Ansatz, denn er sichert allen Menschen das Grundrecht der körperlichen und geistigen Unversehrtheit und Selbstbestimmung über den Tod hinaus zu. Dies entspricht zudem der geltenden Rechtsprechung im Gesundheitswesen, wonach jeder Mensch zu jedem Eingriff sein explizites Einverständnis geben muss. Es gibt keinen Grund davon abzuweichen. Studien zeigen, dass mit der Widerspruchslösung nicht mehr Organe zur Verfügung stehen.
Welches ist dein Hauptargument gegen die Widerspruchslösung?
Elsbeth: Die Widerspruchsregelung wird unweigerlich dazu führen, dass Menschen gegen ihren Willen Organe entnommen werden, weil sie zu Lebzeiten nicht wussten oder nicht in der Lage waren, ihren Widerspruch zu hinterlegen. Gerade sozial schwache und schlecht integrierte Menschen brauchen den Schutz der Rechtsordnung, denn sonst werden diese zu Organ-Lieferant:innen, ohne davon zu wissen oder sich dagegen wehren zu können. Zudem werden Hoffnungen geweckt, dass zukünftig niemand mehr auf ein Organ warten muss.
Was ist dein Hauptargument für ein Ja zur Widerspruchslösung?
Flavia: Die Schweiz hat eine der tiefsten Spende-Quoten in Westeuropa. In praktisch allen westeuropäischen Ländern mit höheren Quoten gilt eine Form der Widerspruchsregel. Verschiedene Befragungen zeigen, dass vier von fünf Menschen in der Schweiz positiv zur Organspende stehen. In 60% der Fälle lehnen die Angehörigen die Organentnahme jedoch ab. Das Missverhältnis zwischen der Ablehnungsrate durch die Angehörigen und der hohen Zustimmung in der Bevölkerung lässt den Schluss zu, dass Angehörige die Entnahme von Organen vielfach im Zweifel ablehnen, obwohl die verstorbene Person einverstanden gewesen wäre. Ich bin überzeugt, dass wir mit der Einführung der vermuteten Zustimmung die Angehörigen entlasten, mehr Klarheit schaffen und mehr Leben retten können.
Wie wird die praktische Umsetzung nach einer Zustimmung durch die Stimmbevölkerung aussehen? Wie wird es bei einem Nein weitergehen?
Flavia: Der Bund wird mit einer intensiven Informationskampagne über den Wechsel der Willensäusserung breit informieren und dabei auch darauf achten, dass Fremdsprachige erreicht werden. Neu werden Menschen, die keine Organe spenden möchten, dies festhalten müssen oder die Angehörigen darüber informieren. Die Angehörigen werden in jedem Fall immer einbezogen und haben ein Widerspruchsrecht. Wenn keine Angehörigen erreicht werden, ist eine Organentnahme unzulässig.
Elsbeth: Bei einem Ja müssen sieben Millionen Menschen über die neue Regelung umfassend informiert werden, dass sie nun automatisch Organspender:innen sind, sofern sie nicht Widerspruch einlegen. Ebenfalls müssen sie aufgeklärt werden, wie eine Organentnahme vor sich geht und welche Organe entnommen werden können. Zudem muss sichergestellt werden, dass das Register in der Verantwortung des Bundes von einer unabhängigen Stelle geführt wird und jederzeit eingesehen und geändert werden kann. Bei einem Nein sollte das Geld, das für die Informationskampagne zur Widerspruchslösung vorgesehen ist, in die Aufklärung zur heutigen Regelung fliessen. Jeder Mensch sollte sich zur Frage der Organspende im Rahmen der Patientenverfügung verbindlich äussern müssen.
Flavia Wasserfallen ist Nationalrätin aus dem Kanton Bern und Verwaltungsrätin der ewb (Energie Wasser Bern). Sie war von 2012—2018 Co-Generalsekretärin der SP Schweiz.
Elsbeth Wandeler engagiert sich in der SP60+ für eine soziale Gesundheitspolitik, war Geschäftsleiterin des SBK Schweiz (Berufsverband der Pflegefachleute) und hat 50 Jahre Erfahrung als Pflegefachfrau.