Die Initiative der Jungfreisinnigen für ein Rentenalter 67 ist der Versuch, die Umverteilungswirkung der AHV mit einer technokratischen Formel zurückzufahren und einzufrieren. Das ist Klassenkampf von oben: Es geht darum, bei der Mittelklasse zu sparen, um hohe Einkommen und Vermögende zu schonen. Hier die Gründe, die für eine wuchtige Ablehnung der FDP-Initiative sprechen am 3. März 2024.
Von Walter Langenegger
Die Leier wird gespielt, seit es die AHV gibt: «Morgen, liebe Kinderlein, wird es nichts mehr geben», warnen Bürgerliche und Finanzindustrie seit jeher, malen den baldigen Kollaps des Sozialwerkes an die Wand und rechtfertigen damit Abbauforderungen. Eingetroffen ist dieses Szenario freilich noch nie, nicht einmal ansatzweise. Die AHV erwies sich dank solidarischer Umverteilung und Umlageverfahren immer wieder als robust und krisenresistent, erst recht im Vergleich zur Zweiten Säule.
Hauptgrund dafür ist die kontinuierlich ansteigende Produktivität und Wertschöpfung, angetrieben durch den technischen Fortschritt und die wirtschaftliche Innovation. Sie sorgen für eine Zunahme der Löhne und damit dafür, dass die Einnahmen der AHV aus den Lohnprozenten Jahr für Jahr steigen. Das erlaubt es dem Sozialwerk, die Alterung der Gesellschaft zu einem beträchtlichen Teil aufzufangen und immer mehr Renten zu finanzieren. Dies wiederum macht klar: Das Wirtschaftswachstum ist der zentrale Faktor für die Finanzierung der AHV, nicht die Demografie. Diese spielt nur eine untergeordnete Rolle.
Das hindert die Jungfreisinniger allerdings nicht daran, es erneut mit der alten Leier zu versuchen. Als Vorwand dienen ihnen diesmal die Babyboomer, die jetzt in Rente gehen. Bestärkt durch das knappe Volks-Ja zum Frauenrentenalter 65 verlangen sie nun, das Rentenalter zunächst schrittweise bis 2032 auf 66 zu erhöhen und es dann mittels einer fixen mathematischen Formel an die Lebenserwartung zu koppeln. Das würde dazu führen, dass das Rentenalter in zwanzig Jahren bei etwa 67 läge.
«Frondienst» leisten?
De facto bedeutete dieser Mechanismus, dass die Ausgaben für die AHV mehr oder weniger eingefroren werden. Je mehr Renten die AHV auszahlen muss, desto höher das Rentenalter. Die Wurst wird gestreckt, damit sie länger hält. So werden die Kosten tief gehalten und es braucht kaum Zusatzfinanzierungen für die starken Jahrgänge.
Dass dies eine gute Nachricht für die oberen zehn Prozent der Gesellschaft wäre, liegt auf der Hand: Sie würden davor bewahrt, etwa mittels unlimitierten Lohnprozente oder über die direkte Bundessteuer noch mehr Beiträge für die AHV zu leisten und damit die Renten für die breite Bevölkerung mitzufinanzieren.
Umgekehrt wäre es eine schlechte Nachricht für alle anderen. Für sie bedeutete die neue Regelung eine Art «Frondienst»: Da sie nicht die Mittel für eine Frühpensionierung haben, müssten sie quasi die Mehrkosten der Demografie mit Erwerbstätigkeit bis ins hohe Alter «abarbeiten».
Neue Ungerechtigkeiten
Kommt hinzu: Die Koppelung von Lebenserwartung und Rentenalter würde nicht nur eine gesellschaftlich sinnvolle Umverteilung unterminieren, sondern neue Probleme schaffen. Das gilt etwa für ältere Arbeitnehmende: Sie sind viel stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als andere Erwerbstätige. Je später sie in Rente gehen können, desto mehr droht ihnen Altersarbeitslosigkeit und Altersarmut.
Zudem würden sich die sozialen Unterschiede zwischen den Einkommensklassen weiter verschärfen. Nachgewiesen ist, dass Menschen mit hohen Löhnen länger leben als jene mit tiefen. Ein immer höheres Rentenalter bedeutete für Letztere, immer weniger von der Pensionierung zu haben, während sich die Bessergestellten eine Frühpensionierung leisten können.
Erst recht absurd erscheint der geforderte Mechanismus, wenn man sich die unterschiedliche Lebenserwartung nach Geschlechtern, Generationen oder Regionen vor Augen hält oder wenn man sich fragt, welche Folgen etwa eine Pandemie, ein Heilmittel gegen Krebs oder Altersdemenz oder eine schwere Wirtschaftskrise für das Rentenalter hätte. Überlassen wir die Bestimmung des Rentenalters auch dann ganz den Statistikern, statt das zu tun, was in einer Demokratie opportun wäre? Nämlich politisch darüber zu entscheiden?
Und was geschieht, wenn dereinst die Babyboomer-Generation dahingeschieden ist, die AHV massiv weniger Renten finanzieren muss und sich die Überschüsse im Fonds türmen? Bleibt es beim hohen Rentenalter? Oder kommen dann die Jungfreisinnigen mit einer neuen Initiative für die Senkung der Bundessteuer und der AHV-Lohnprozente, wovon selbstredend wieder die Oberschicht am meisten profitieren würde?
Neoliberalismus pur
All dies entlarvt, worum es den Jungfreisinnigen im Kern geht: um eine Entpolitisierung einer zentralen sozialen Verteilungsfrage mit dem Ziel, dass die Privilegierten künftig finanziell möglichst nicht zusätzlich belastet werden.
Das ist Neoliberalismus pur und liegt alles andere als im Interesse des Gemeinwohls. Und darum gehört diese Initiative wuchtig abgelehnt.
Dieser Text ist im Oktober 2023 zuerst auf dem Blog von Walter Langenegger erschienen.