Der F-35 wird bis heute und auf Zusehen weiterhin mit dem Status einer Vorserie („Low rate initial production“ LRIP) produziert, weil das Pentagon den Auftrag an Lockheed zur Entwicklung des F-35 als noch nicht abgeschlossen betrachtet. Solange weiterhin Entwicklungsarbeiten im Gang sind und das Pentagon deren Ergebnisse mit umfangreichen Tests bewerten will, kann es aus rechtlichen Gründen bis heute mit Lockheed Martin keine Verträge mit verbindlichen Preisen (so genannte „fixed-price contract“) abschliessen.[1] Diese Frage ist darum wichtig, weil das VBS immer wieder behauptet, dass für die F-35 verbindliche Preise vorliegen. Das ist nicht der Fall. Irgendwann in Zukunft mag dies in den USA rechtlich möglich werden. Heute ist dies aber noch nicht der Fall.
Gerade vor wenigen Tagen bestätigte das angesehene Medienunternehmen Bloomberg einmal mehr, dass der F-35 die volle Serienreife nach wie vor nicht erreicht hat: „Das Testbüro des Pentagon bekräftigte in einer Erklärung seine seit langem vertretene Auffassung, dass die Simulation als Teil der gesetzlich vorgeschriebenen Tests notwendig ist, bevor das in Bethesda, Maryland, ansässige Unternehmen Lockheed mit der Serienproduktion beginnen kann. Von einer potenziellen Flotte von 3 000 oder mehr F-35 für die USA und internationale Kunden sind bereits 720 ausgeliefert worden. Diese müssen aufgrund der Ergebnisse der Tests möglicherweise nachgerüstet werden.“[2]
Mit anderen Worten: Weil die volle Serienreife nicht erreicht ist, besteht das ernsthafte Risiko, dass alle 720 bereits ausgelieferten F-35 zurückgerufen oder in anderer Form nachgebessert werden müssen. Mit diesem Risiko ist jedes Käuferland konfrontiert, also auch die Schweiz.
Die Problematik der fehlenden vollen Serienproduktionsreife (FRP) führt seit Jahren zu intensiven Diskussionen. 2017 erwog die US-Air Force gar, auf die zuerst ausgelieferten 108 F-35 ganz zu verzichten, weil der Rückruf und die nachträgliche Behebung der zwischenzeitlich festgestellten Mängel viel zu teuer sei, wie Alex Hollings von Sandboxx-News berichtet:
„In Wirklichkeit bedeutete dies, dass die F-35 gebaut wurden, bevor sie vollständig getestet worden waren, und dann Milliarden ausgegeben wurden, um die alten Jets nach Abschluss der Tests zu reparieren. 2017 waren die Probleme so gravierend geworden, dass die Air Force in Erwägung zog, die ersten 108 F-35A, die sie erhalten hatte (und die 21,4 Milliarden Dollar, die sie dafür ausgegeben hatte), einfach aufzugeben, weil ihre Reparatur zu kostspielig wäre. Ende 2020 verschob Lockheed Martin erneut die Serienproduktion, weil nach wie vor eine lange Liste von Problemen zu lösen war.“[3]
Im Juli 2021 berichtete der US-Rechnungshof GAO, dass das F-35-Programm im November 2020 noch 872 nicht gelöste Mängel aufwies. Das waren sogar zwei mehr, als Lockheed im Mai 2020 gemeldet hatte (870). Es geht allesamt um Mängel, welche die Nichterfüllung von Anforderungen betreffen und/oder weniger Sicherheit, Eignung und Wirksamkeit mit sich bringen.
Der US-Rechnungshof GAO unterscheidet zwei Kategorien von Mängeln:
- Mängel der Kategorie 1 sind kritisch und könnten die Sicherheit oder eine andere Anforderung gefährden. Solche kritischen Kategorie-1-Mängel des F-35 sind vom Mai bis November 2020 gar um zwei von neun auf elf angestiegen.
- Mängel der Kategorie 2 sind solche, welche die erfolgreiche Erfüllung des Auftrags behindern oder einschränken könnten. Von diesen gibt es nach wie vor 861.[4]
Das 1940 gegründete, weltweit tätige Technologieberatungs- und Dienstleistungsunternehmen FORCE Technology berichtete am 9. November 2021, dass Lockheed Martin bis Juli 2021 von den im November 2020 festgestellten 11 besonders kritischen Mängeln vier behoben hat. Damit bleiben weiterhin 7 besonders kritische Mängel der Kategorie 1.
Das ist eine der zentralen Ursachen dafür, dass das Pentagon nach wie vor nicht bereit ist, Lockheed Martin den rechtlich definierten Status der vollen Serienreife („Full Rate Production“ FRP-Status) anzuerkennen. Vielmehr liegt dieser immer noch in weiter Ferne, wie FORCE Technology festhält.[5]
Bloomberg berichtete im Juli 2021, dass gemäss einem neuen Fahrplan frühestens 2023 damit zu rechnen sei, dass Lockheed der Status der vollen Serienreife anerkannt werde. Nach früheren Planungen hätte dieser Status spätestens 2017 erreicht werden sollen. Die Mängelliste blieb aber zu lang.[6]
Diese Mängellisten bergen für die Käufer der 720 bereits ausgelieferten F-35 bedeutende technische und finanzielle Risiken. Denn namentlich Kategorie-1-Mängel haben das Potenzial, dass sämtliche 720 F-35 zurückgerufen und nachgebessert werden müssen.
All die schönfärberischen, mit Gefälligkeitsgutachten untermauerten Behauptungen, welche der F-35-Programmleiter Eric Fick anlässlich einer Konferenz vom 12. Mai 2021 äusserte, erwiesen sich damit einmal mehr als blosse Propaganda.[7]
Statt sich ausgerechnet auf Eric Fick zu berufen – Bundesrätin Viola Amherd und Armeechef Thomas Süssli empfingen den Herrn am 28. Oktober 2021 in Emmen – und statt die Fick-Propaganda weiterzuverbreiten, würde sich das VBS besser mit den bedeutenden technischen und finanziellen Risiken beschäftigen, die mit der fehlenden Produktionsreife des F-35 verbunden sind. Denn diese Risiken trägt allein das Käuferland.
Es ist deshalb in aller Form zurückzuweisen, wenn das VBS nun öffentlich schreibt: „Zudem stellt Nationalrätin Franziska Roth die Integrität des Bundesrates in Frage.“
[1] US Department of Defense, Operation of the Defense Acquisition System, Instruction 5000.02, January 7, 2015, S. 47, https://www.acq.osd.mil/fo/docs/500002p.pdf
[2] “The Pentagon’s test office reiterated in a statement its long-standing view that the simulation is necessary as part of legally required testing before Bethesda, Maryland-based Lockheed can proceed with full-rate production. Of a potential fleet of 3,000 or more F-35s for the U.S. and international customers, 720 already have been delivered. Those may need to be retrofitted based on findings from the tests.” https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-11-05/pentagon-can-t-say-when-lockheed-f-35-will-finish-combat-testing
[3] „In reality, it meant building F-35s before they’d been fully tested and then spending billions to go back and fix the old jets after testing was complete. By 2017, they’d become so serious that the Air Force began to consider just abandoning the first 108 F-35A’s they’d received (and the $21.4 billion they’d spent on them) simply because fixing them would be too expensive. By the end of 2020, Lockheed Martin once again postponed full-rate production, with a long list of issues yet to be resolved.“ Alex Hollings, What went wrong with the F-35? Sandboxx News, 06.07.2021,
https://www.sandboxx.us/blog/what-went-wrong-how-the-f-35-got-to-be-so-expensive/,
am 27.08.2021 auch als Video publiziert: https://www.youtube.com/watch?v=PqSmSCFWCAw
[4] US Government Accountability Office (GAO), Report to the Committee on Armed Services, House of Representation, F-35 Stainment. DoD Needs to Cut Billions in Estimated Costs to Achieve Affordability, Washington July 2021 (GAO-21-439), S. 15f. und Anhang III. https://www.gao.gov/assets/gao-21-439.pdf.
[5] The Trillion Dollars Fighter Jet in Big Trouble, FORCE Technologys, 09.11.2021, https://www.youtube.com/watch?v=qpqeccRepXA
[6] Anthony Capaccia, F-35 Closes In on New Timeline for Combat Test Once Set for 2017, Bloomberg, 12.07.2021, https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-07-12/pentagon-nears-decision-on-key-f-35-combat-testing-simulation
[7] Frank Wolfe, Lack of F-35 Full-Rate Production Decision Provides “Launching Point for Criticism of Program”, 13.05.2021, https://www.defensedaily.com/lack-f-35-full-rate-production-decision-provides-launching-point-criticism-program-peo-says/air-force/