«Schau mir in die Augen, Angst!»

Min Li Marti, Gemeinderätin Zürich

Min Li Marti, Gemeinderätin Zürich
Die Antwort von Alt-Regierungsrat Markus Notter auf eine Frage in seiner Rubrik in der «Zeit», ob man die Ängste vor der Personenfreizügigkeit nicht ernster nehmen sollte, war ziemlich ungehalten: «Ich kann das Geschwafel vom Ernstnehmen der Ängste vor der Zuwanderung nicht mehr hören. Was hat uns denn in diesem Land in den letzten vierzig Jahren mehr beschäftigt als die Angst vor den Ausländern?» Die Antwort ist zwar unwirsch – aber reichlich erfrischend. Endlich einer, der diese Floskel nicht bemüht.

Die Ängste der Menschen werden im Moment in Bremgarten sehr ernst genommen. In Bremgarten wird ein Bundeszentrum mit maximal 150 Asylsuchenden eröffnet. Die Ängste wurden so ernst genommen, dass 32 Zonen definiert wurden, wo sich die Asylsuchenden nicht aufhalten dürfen . Zu diesen Zonen gehört auch die Badi. Dass dieses pauschale Rayonverbot rechtlich gar haltbar ist, darüber wurde berichtet. Auch dass das BFM das gar nicht so gemeint habe, die Gemeinde aber schon.

Was sich in diesem Fall klar herauskristallisiert: Ängste ernst nehmen heisst, dass man sicherstellt, dass die Bremgartner nie auf die Probe gestellt werden, ob ihre Ängste auch wirklich berechtigt sind. Weil sie nie einem Asylsuchenden begegnen sollen.

Die Grundlage für dieses präventive Verhängen von Notstandsmassnahmen ist ein Menschenbild, das auch anderswo um sich greift. Jeder Sozialhilfebezüger ist ein Betrüger, jede IV-Empfängerin eine Simulantin und jeder Politiker korrupt. Asylsuchende sind alles auf einmal: Betrüger, Drogendealer, Kriminelle. Was auch immer – jedenfalls bestimmt keine Menschen auf der Flucht und schon gar nicht Menschen auf der Suche nach Schutz vor Verfolgung. Auch wenn ich damit den Vorwurf, ich sei ein hoffnungsloser und naiver Gutmensch, sicher nicht entkräften kann: Natürlich gibt es betrügende Sozialhilfeempfänger und dealende Asylsuchende. Und auch korrupte Politiker. Aber kann man von einzelnen Fällen auf alle schliessen? Muss die unschuldige Mehrheit  für die Vergehen von ein paar wenigen büssen?

Letztlich geht es um die alte Frage: Ist der Mensch gut, oder ist er schlecht?  Kann man ihm vertrauen? Kann er mit Freiheiten umgehen? Thomas Hobbes, absolutistischer Philosoph, meinte in «Leviathan» klar: «Der Mensch ist des Menschen Wolf.» Wenn man ihn nicht unter strikte Regeln stellt, dann bricht Chaos und Anarchie aus. So denken auch die Bremgartner Behörden. Aber wir leben nicht mehr in einem absolutistischen Staat, sondern in einer freiheitlichen und offenen Gesellschaft mit Grundrechten. Und daran sollten wir uns orientieren.

In der Stadt Zürich wird die Asylpolitik explizit anders verstanden. Auch in Zürich ist ein Bundeszentrum geplant. Doch der zuständige Stadtrat Martin Waser sagt im Interview mit dem Regionaljournal ZH-SH klar, dass man in der Stadt Zürich den Asylsuchenden mit Respekt begegnen  wolle. Er weiss sich vom Parlament unterstützt. Der Gemeinderat von Zürich hat ein Postulat von Alan Sangines (SP), Samuel Dubno (GLP) und Matthias Probst (Grüne) überwiesen, das ein weniger restriktives Regime für das Bundeszentrum will, als dies in den bisherigen vom Bund betriebenen Empfangszentren üblich ist.

Die Stadt Zürich ist nicht einfach ideologisch verblendet: Nein, wir haben ganz praktisch gute Erfahrungen damit gemacht, den Respekt nicht nur von den Asylsuchenden einzufordern, sondern ihn auch selbst ihnen gegenüber zu zeigen. 1900 Asylsuchende wohnen in der ganzen Stadt verteilt. Niemandem fallen sie auf. Im ehemaligen Luxushotel Atlantis waren 250 Asylsuchende untergebracht. Zu Beginn war auch hier seitens der Quartierbevölkerung Unbehagen vorhanden. Doch man hat mit dem Quartier den Kontakt gesucht. Und man hat vor allem Möglichkeiten geschaffen, dass die Quartierbewohner die Asylsuchenden kennen lernen konnten. Viele der Ängste sind nachher verschwunden . Denn die Anwohnerinnen und Anwohner stellten fest, dass auch Asylsuchende ganz normale Menschen sind. Vielleicht könnten auch Bremgartner zu diesem Schluss kommen, wenn sie ihnen einmal begegnen würden.

Will man die Leute ernst nehmen , muss das nicht heissen, dass man sie in ihren Ängsten bestätigt oder diese gar noch schürt. Mir ist beispielsweise ziemlich mulmig zumute, wenn ich nachts allein durch den Wald gehe. Das hat sicher mehr mit Filmen zu tun, die ich gesehen habe, als mit realer Gefahr. Die Angst ist aber trotzdem vorhanden. Dennoch kann ich nicht verlangen, dass man alle Wälder abholzt, nur weil mir (und vermutlich noch einigen anderen) darin im Dunkeln nicht ganz wohl ist.

Nun muss ich selten nachts durch den Wald und kann dem ganz einfach aus dem Weg gehen. Wenn ich aber meine Angst wirklich überwinden wollte, so weiss ich, dass ich mich ihr stellen müsste – wenn ich die Angst dagegen einfach fest ernst nehme, so geht sie garantiert nicht weg.
 

Quelle: Politblog Newsnetz, 9.8.2013

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