Wir ärgern uns über die Preiserhöhung beim ZVV im Dezember – aber wir haben einen sehr gut ausgebauten ÖV. Wir ärgern uns über die Erhöhung der Krankenkassenprämien – aber wir haben ein qualitativ sehr hochstehendes Gesundheitswesen in der Schweiz. Wir erschrecken über ein brutales Verbrechen in unserer Nachbarschaft – aber wir leben immer noch ein einem der sichersten Länder der Welt.
Natürlich sind es auch bei mir die Erlebnisse des Alltags, die mich treffen und berühren. Und allzu schnell lasse ich mich durch ein Einzelereignis verunsichern, dann übersehe ich leicht, wie sicher, zuverlässig und effizient die Leistungen der öffentlichen Hand in der Schweiz sind.
Gemeinsame Wohlfahrt
Was mich beunruhigt, sind die Veränderungen innerhalb unserer Gesellschaft. Dass das Unbehagen gross ist, haben verschiedene Abstimmungsresultate – beispielsweise der Masseneinwanderungs- oder Abzockerinitiative – der letzten Jahre gezeigt. Sie sind als Demonstrationen gegen die scheinbar tatenlose classe politique zu verstehen.
Viele der ungelösten Probleme, die wir tatsächlich haben, hängen mit dem Wachstum zusammen. In den sechziger und siebziger Jahren hatten wir ein ähnliches Wachstum. Was ist heute anders? Der Hauptunterschied ist die Haltung der Verantwortlichen aus Wirtschaft und Politik. Damals wurden die Wachstumsgewinne verteilt: Die Sozialwerke wurden ausgebaut, der Service Public sorgte für gute Leistungen zu bezahlbaren Preisen für alle und die Steuerprogression versicherte, dass die Bessergestellten auch einen höheren Beitrag an die soziale Sicherheit leisten. Alle profitierten von den Wachstumsgewinnen. Heute ist es leider so, dass sowohl Vermögens- als auch Einkommensschere weit und weiter aufgehen. 2 % besitzen gleich viel wie die anderen 98 % der Schweizerinnen und Schweizer. Und viele Steuern für Gutverdienende sind in einem ruinösen Wettbewerb unter Kantonen und Gemeinden gesenkt worden – auch darum fürchten viele, dass ihr Erspartes im Alter nicht mehr reichen könnte.
Wollen wir verhindern, dass die Angst der Bevölkerung vor Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft überhandnimmt, so müssen auch heute alle von den Wachstumsgewinnen profitieren. Bei den sehr gut Verdienenden sind die Löhne in den letzten 20 Jahren um 50% gewachsen, bei den mittleren und tiefen Einkommen lediglich um 15%. Die tiefen Einkommen haben also mit der Steigung der Krankenkassenprämien und der Mieten nicht Schritt gehalten.
Trotz allem sind wir immer noch auf einem sehr hohen Wohlstandsniveau. Und wenn wir uns einschränken mussten, dann so, dass wir nur noch dreimal und nicht mehr viermal in die Ferien verreisen, das Auto nicht mehr 15l auf 100km säuft, sondern nur noch 8l und dass wir im Haushalt etwas weniger schnell wegwerfen und ersetzen.
Uns geht es nach wie sehr gut – gerade auch im Vergleich zum Ausland – und unser Sozialsystem «verhebt» so gut, dass bei niemand unter der Brücke schlafen muss und wir uns auf der Strasse sicher fühlen können. «Die Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied», sagen wir. Das sind mehr als leere Worte, denn wir bekennen uns dazu in der Bundesverfassung und leben sie in unseren Sozialgesetzen und Sozialwerken. Doch die Grosszügigkeit mit den Schwächeren wird auf die Probe gestellt, wenn das Gefühl aufkommt, dass der Mittelstand und die tieferen Einkommen übermässig belastet werden, Menschen dieser Lohnklassen zuerst verzichten müssen und nicht alle zum gemeinsamen Wohlstand beitragen. Bei der anstehenden Revision der Altersvorsorge 2020 wird der Zusammenhalt zwischen sozialen Schichten und den Generationen auf die Probe gestellt werden. Und bei der Abstimmung zur Unternehmenssteuerreform III wird sich zeigen, ob die Bevölkerung akzeptiert, dass unkontrollierbare Steuerabzüge für grosse Unternehmen von den natürlichen Steuerzahlenden gegenfinanziert werden müssen.
Flüchtlingsströme
Es sind letztes Jahr hunderttausende Flüchtlinge nach Europa gekommen, etwa vierzigtausend auch zu uns. Das fordert von uns Engagement. Doch kommt das überraschend für uns, für Europa?
1989 – vor 26 Jahren – schrieb Afrika-Korrespondent des Tages-Anzeigers Andreas Bänziger:
«Haben wir wirklich geglaubt, zu uns kämen aus den armen Ländern nur die Reichsten, ums unsere Tresore mit ihren Schätzen zu füllen? …. Ha, jetzt kommen die Armen …. zu Hunderten und zu Tausenden kommen sie. … Geben wir es doch zu: Uns fällt zur Abwehr der Menschen aus dem Armenhäusern der Welt nicht mehr ein.»
Jetzt, 26 Jahre später, ist es noch schlimmer und wir müssen uns eingestehen: Die armen Länder sind noch ärmer geworden, die reichen Länder trotz Finanz- und Bankenkrisen reicher und damit zwangsläufig die Flüchtlingsströme grösser. Wir müssen uns fragen, was schiefgelaufen ist, wenn wir trotz Jahrzehnten der internationalen Zusammenarbeit keine Verbesserung erreicht haben.
Heute fliehen die Menschen aus Armut, vor Kriegen, vor Hunger und Dürre, vor Menschenhandel und Sklavenarbeit oder einfach wegen Perspektivlosigkeit. Und wir sind daran nicht unschuldig: So finden sich in den Kriegsgebieten auch Schweizer Waffen, wir beuten ihre Rohstoffe aus und unser Lebenswandel trägt zur Klimaveränderung bei, welche die ärmsten Länder am stärksten trifft.
Deshalb haben wir auch Verantwortung für das Schicksal der Menschen auf der Flucht zu übernehmen. Bis anhin tun wir das recht gut: Wir bewältigen die Aufnahme der Menschen, die plötzlich bei uns sind in funktionierender Zusammenarbeit zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden. Sie erinnern sich sicher an die Bilder in den Medien, die Hunderte von Flüchtlingen im Hauptbahnhof von Wien oder München, Tausende auf Sizilien, auf den griechischen Inseln oder an den Zäunen in Mazedonien zeigten. Bei uns hat es so eine Situation bisher nicht gegeben. Wir sind nach wie vor in der Lage die Aufgabe, diesen Menschen Schutz zu bieten, zu meistern.
Gleichzeitig müssen wir mithelfen, die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Leute in ihrer Heimat eine Perspektive haben, indem wir uns engagieren bei der Friedensförderung in Krisengebieten, indem wir die Länder unterstützen, die die Flüchtlinge als erstes aufnehmen (Libanon hat mehr Flüchtlinge als Einwohner) und indem wir die Zeit, die sie bei uns sind, sinnvoll für sie und für uns nutzen: vorläufig Aufgenommene sollten eine Ausbildung erhalten, die sie im Heimatland später nutzen können. Bis dann können wir von ihrer Arbeitskraft profitieren.
Angela Merkel wurde in den Medien angegriffen, weil sie sagte «Wir schaffen das». Sie hat es gesagt, nachdem sie betont hat, dass es eine grosse Aufgabe sei, die alle stark fordert, aber eine Aufgabe, die Deutschland bewältigen könne. Aus politischem Kalkül hat man ihr die Worte im Mund umgedreht. Merkels Haltung verdient Respekt, denn sie zeigt die Bereitschaft, als reiches Europa Verantwortung zu übernehmen.
Genauso ist es bei uns. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs lebten in der damals 4 Millionen Einwohner starken Schweiz 300’000 Flüchtlinge. Viele davon trugen später nach erfolgreicher Integration zu unserem Wohlstand bei. Wie damals ist die Herausforderung nicht die wirtschaftliche Bewältigung – die wirkliche Herausforderung begegnet uns in unserem Kopf. Wie gehen wir mit den Flüchtlingskindern in den Klassen unserer Kinder und Enkel um, wie bringen wir die Jugendlichen zu einem erfolgreichen Lehrabschluss und wie verhindern wir die Ausgrenzung geflüchteter Menschen?
Wir haben uns angewöhnt, dass es für uns keine Grenzen mehr gibt. Wir reisen auf der Welt dorthin, wo es uns gerade reizt, hinzugehen. Die Sehenswürdigkeiten der armen Länder sind unsere Sehenswürdigkeiten. Wir bringen ihre Rohstoffe in unseren Besitz. Wir lassen uns bedienen in herausgeputzten Urlaubsressorts. Wir anerkennen für uns keine Grenzen mehr. Wenn sich die Menschen aus diesen Ländern aufmachen und an unserer Grenze stehen, verlangen wir, dass sie unsere Grenze respektieren und draussen bleiben.
Innere Sicherheit
Die Terroranschläge und Amokläufe in den letzten Tagen und Wochen haben uns alle aufgeschreckt. Die Medien haben uns mit ihren Bildern den Horror greifbar nahe gebracht – wir sind betroffen und verunsichert. Das sind Herausforderungen für uns alle, auch hier in der ruhigen Schweiz – und Prüfungen für Behörden, Strafverfolgung, Sicherheitskräfte.
Heute stehen wir vor der Aufgabe, die Radikalisierung von Jugendlichen zu verhindern. Ursache ist nicht die Religion, sondern der Missbrauch der Religion als Rechtfertigung für Gewalt. Um zu verhindern, dass sich Jugendliche kriminellen Banden anschliessen, ist es für uns wichtig zu wissen, wer Einfluss auf unsere Jugendlichen ausübt und welche Werte vermittelt werden. Wir haben ein grosses Interesse daran, dass Vertreter von religiösen Gemeinschaften unsere westlichen Werte anerkennen und lehren: in der Moschee, im Gefängnis und in der Erziehung.
Wenn wir uns zu unüberlegten und ungerechtfertigten Reaktionen hinreissen lassen, belasten wir nur unsere eigene Bewegungsfreiheit, unsere Freiheitsrechte und letztlich unsere Staatskasse. Unser Recht und Gesetz gilt, und konsequent angewendet schützt es uns gut.
So tragisch die Terroranschläge und die Amokläufe von psychisch kranken Männern sind, es sind Einzelfälle. Wir leben in einem sicheren Land, auf einem sicheren Kontinent, auch eine Reise nach Frankreich oder Deutschland ist sicherer als unser täglicher Gang vor die Türe und auf die Strasse.
Wenn wir nachgeben, uns verunsichern lassen, unseren Lebenswandel anpassen und unsere Werte aufgeben, geben wir auch ein Stück schweizerische Identität auf. Heute kann bei uns ein Bundesrat im Tram fahren und eine Bundesrätin ohne Bewachung durch Bern gehen. Das soll so bleiben können.
Ich bin überzeugt: Mit Selbstbewusstsein halten wir der sinnlosen Gewalt stand.
Nach wie vor geniessen wir hohe Achtung im In- und Ausland, wenn wir uns auf unsere Werte berufen und danach handeln:
- Wir bleiben der humanitären Tradition verpflichtet und zeigen uns solidarisch mit weniger bevorteilten Länder.
- Wir verteidigen die Menschenrechte und bieten verfolgten Menschen Schutz
- Wir sind nicht so überheblich, dass wir unser staatliches Handeln nicht auch vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beurteilen lassen.
- Wir halten uns an die Bundesverfassung, mit welcher wir die gemeinsame Wohlfahrt fördern: Alle – für alle, die hier leben.
- Wir sind optimistisch, für alle anstehenden Herausforderungen eine Lösung zu finden. Aber wir müssen die Probleme zusammen anpacken und so gemeinsam für die Zukunft gewappnet sein.
Ich wünsche Ihnen und mir viel gesundes Selbstbewusstsein und Zuversicht.