Was für eine abstruse Idee! Das habe ich gedacht, als ich vernahm, dass das Kader des Kantons Fribourg dem Service public den Prozess macht. Wie können Führungspersonen einer öffentlichen Verwaltung nur auf den Gedanken kommen, den öffentlichen Dienst, den sie repräsentieren, auf die Anklagebank zu zerren?
Was zunächst irritiert, hat bei näherer Betrachtung sehr wohl seine Logik. Dem Service public wird schon seit 30 Jahren der Prozess gemacht. Initiiert haben ihn die britische Premierministerin Margaret Thatcher und der US-Präsidenten Ronald Reagan. Seither steht der öffentliche Sektor unter Dauerbeschuss. Permanent wird uns eingetrichtert, wie angeblich ineffizient, teuer und intransparent er arbeitet. Das zeigt Wirkung: Selbst jene, die für den Service public tätig sind, zweifeln inzwischen an dessen Sinn und Zweck.
Treibende Kraft der Kritik ist die Ideologie des Marktfundamentalismus – und die Wirtschaft. Der Grund dafür liegt in der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten 70 Jahre. Als nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen der Wiederaufbau organisiert werden musste, war nur eine Instanz dazu fähig: der Staat bzw. die öffentliche Hand, demokratisch und rechtsstaatlich dazu legitimiert. Daraus entwickelte sich die soziale Marktwirtschaft mit Sozialstaat und Sozialversicherungen, mit Staatsbetrieben und Service public. Das «Wirtschaftswunder», das nicht nur ein deutsches, sondern europäisches Phänomen war, brachte Wohlstand auf breiter Basis hervor und schuf eine neue, starke Mittelklasse. Kurzum: Prosperität für alle!
Darüber hinaus förderte die soziale Marktwirtschaft eine massive Akkumulation von Kapital. Immer mehr Menschen und Unternehmen wurden immer reicher. Gut so! Nach Jahren des Wachstums stellte sich jedoch die Frage: Wohin mit dem Kapital? Viele lukrative Geschäftsfelder blieben privaten Investoren wegen des Service public vorenthalten. Die Telekommunikation, die Verkehrsinfrastruktur, die öffentlich-rechtlichen Medien, das Gesundheits- und Bildungswesen, die Altersvorsorge und die Altenbetreuung, die Wasser- und Energieversorgung: In all diesen Bereichen lassen sich hohe und satte Gewinne erzielen, wenn man sie privatisiert. Darum der Angriff ab den 1980er-Jahren auf den Service public. Es ging und geht der Finanzbranche und den privaten Investoren bis heute darum, sich möglichst viel vom öffentlichen Kuchen abzuschneiden.
Investition in den Service public sind gute Investitionen – und vor allem sichere. Denn hier geht es – wie es im Deutschen richtig heisst – um die Daseins-Vorsorge, um die Grundversorgung. Die Güter und Dienstleistungen des Service public benötigen wir zwingend. Sie sind existenziell. Wir haben keine Wahl. Wir können nicht ohne Wasser und Energie, ohne Gesundheitsvorsorge und Bildung oder ohne Infrastruktur leben. Wir sind davon abhängig. Verweigerung ist nicht möglich – und die Rendite damit garantiert.
Das macht klar, welche Bedeutung ein für alle zugänglicher Service public hat. Er sichert insbesondere drei zentrale Säulen unserer Gesellschaft: den Wohlstand für die breite Bevölkerung, die Verteilungsgerechtigkeit und die Wahrnehmung der Bürgerrechte.
Zunächst zum Wohlstand: Der Service public bildet mehr denn je das Fundament für eine prosperierende Wirtschaft. Mit einem funktionierenden Bildungs- und Gesundheitswesen, mit einer modernen Energie-, Kommunikation- und Verkehrsinfrastruktur, mit einer guten Kinderbetreuung und Altenpflege und seinen Sozialwerken schafft der öffentliche Sektor überhaupt erst die Voraussetzung dafür, dass Unternehmen zuziehen oder gegründet werden und Wettbewerbskraft erlangen. Der Service public ist die staatliche Vorleistung und oftmals die Voraussetzung für private Investitionen. Ohne Service public geht nichts. Gar nichts.
Sodann zur Verteilungsgerechtigkeit: Sie wird gewährleistet, indem die öffentlichen Dienstleistungen uneingeschränkt einer breiten Mehrheit der Bevölkerung zu Gute kommen. Der Service public ist eine Art Einkaufsgenossenschaft. Es werden en gros wichtige Dienstleistungen und Güter – die Volksschulbildung, die Polizei, die öffentliche Grünanlage, die Spitex – eingekauft, um sie kostengünstig allen zur Verfügung zu stellen. Das stiftet Wohlstand, indem die Kaufkraft erhöht, der Konsum angekurbelt und die Mittelklasse gestärkt wird.
Und schliesslich zu den Bürgerrechten: Die Verfassung räumt uns die Freiheit ein, unser Leben nach unseren Vorstellungen leben zu dürfen. Doch damit alleine ist es noch nicht getan. Denn wer keinen Zugang hat zu Bildung, Gesundheitsvorsorge, Energie und Mobilität, dem nützen die Freiheitsrechte wenig. Wirklich frei ist ein Mensch erst, wenn er mit Gütern und Fähigkeiten ausgestattet ist, die es ihm erlauben, eine Wahl zu treffen, nach eigenem Willen zu handeln und Chancen zu ergreifen. Genau diese Aufgabe erfüllt der Service public: Er haucht den Freiheitsrechten Leben ein und verleiht ihnen Durchsetzungs- und Geltungskraft.
Kurzum, wenn wir vom Service public reden, reden wir von der Realisierung von Gemeinwohl. Im Kern geht es darum, mit öffentlichen Dienstleistungen der Gesellschaft und den Menschen zu dienen. Darum folgt der Service public zu Recht oftmals einer anderen Logik als ein Unternehmen.
Für Unternehmen mag es nicht effizient sein, Leistungen ohne Gewinn zu erbringen. Für den Service public indes schon. Denn er dient nicht der Börse, sondern dem Wohlergehen der Bevölkerung. Der Service public betreibt eine defizitäre Buslinie, um eine Randregion nicht aussterben zu lassen. Er subventioniert einen Kurs für Migrantenkinder, um die Gesellschaft vor sozialen Problemen in 20 Jahren zu bewahren. Er führt eine SRG, damit eine verlässliche Informationsvermittlung als Grundlage für eine funktionierende Demokratie gewährleistet bleibt. Die Rendite ist gleich Null, doch der Wert für die Gesellschaft unschätzbar hoch.
Gleiches gilt für die angebliche Intransparenz: Ein Klischee! Kaum ein Bereich ist transparenter als der Service public. Denn er untersteht der demokratischen Kontrolle. Ein Beispiel dazu: Heute diskutieren wir darüber, welche Firmen unsere digitalen Daten verwerten dürfen. Für mich ist klar: Mir ist lieber, dass Swisscom oder SRG dies tun – und nicht Google oder Tamedia. Denn Swisscom und SRG sind Bundesrat, Parlament und Volk Rechenschaft schuldig – Tamedia und Google hingegen nicht. Sie sind eine Black Box, finanziert mit privatem Kapital und kaum mehr zu belangen.
Und selbst das Argument, die Wirtschaft erbringe die gleiche Leistung günstiger als der Service public, ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Liberalisierung bedeutet oft tiefere Löhne, schlechtere Arbeitsbedingungen, weniger Investitionen und der Verzicht auf Rundum-Leistung. Die Preise sinken zwar, aber meist nur geringfügig. Denn die Kostensenkung dient dazu, den Gewinn zu finanzieren. Die Rechnung bzw. die Gewinnoptimierung dafür zahlen wir alle – mit höheren Abgaben oder schlechteren Dienstleistungen.
Darum ist es wichtig, den Service public als ein Gut zu begreifen, das uns allen gehört und uns allen dient. Diese Einsicht ist nötiger denn je, zumal bereits die nächste Abbaurunde droht: Mit dem Freihandelsabkommen TiSA, dem Trade in Services Agreement, soll der Service public eingefroren werden. Dem Staat soll es nicht mehr erlaubt sein, den Service public um- und auszubauen und der gesellschaftlichen, technischen und kulturellen Entwicklung anzupassen. Tut er es trotzdem, drohen ihm Schadensersatzklagen. Damit würde man den Service public definitiv dem Würgegriff der Konzerne ausliefern.
Dies zu verhindern, erachte ich als Bürgerpflicht. Die Frage, was der Service public zu umfassen hat, ist demokratisch zu beantworten – und nicht von Wirtschaftsleuten und Lobbyisten. Wir müssen auch künftig das Recht haben, im öffentlichen Beschaffungswesen ökologische und soziale Auflagen zu machen, ohne ein Gerichtsverfahren zu riskieren. Wir müssen auch künftig die Möglichkeit haben, bei der Auslagerung der Datenspeicherung zu verlangen, dass der Server aus Sicherheitsgründen physisch in der Schweiz steht und von einer Schweizer Firma betrieben wird, ohne dass ausländische Anbieter juristisch intervenieren können. Und es muss uns auch künftig erlaubt sein, die Volksschule zu subventionieren – und die Privatschule nicht.
All diese Ausführungen – so hoffe ich – haben eines klar gemacht: Sie, geschätzte Damen und Herren, haben staats- und demokratiepolitisch betrachtet den falschen Kandidaten angeklagt und die falschen gesetzlichen Grundlagen angewandt. Erstens ist der Service public nicht Täter, sondern Opfer. Und zweitens hätten Sie, geschätztes Kader des Kantons Freiburg, das «Gesetzesbuch des Gemeinwohls» hervorholen sollen und nicht das Aktionärshandbuch.
Referat anlässlich einer Kaderkonferenz des Kantons Freiburg: «Service public auf der Anklagebank»