Rebekka Wyler
Das Buch des deutschen Politikwissenschafters Lukas Haffert behandelt eine Frage, die auch für die SP wichtig ist: Gibt es den Konflikt zwischen Stadt und Land wirklich? Welche Formen nimmt er an, und was bedeutet er für die Politik? Haffert betont, dass kein Konflikt «einfach so» Wirksamkeit entfaltet – die Akteure müssen sich den Unterschied zwischen Stadt und Land zuerst selbst aneignen. Denn nicht alle, die in der Stadt leben, sind «urban», und nicht alle Landbewohner:innen sind «ländlich» ausgerichtet. Hinzu kommt: Die erwähnte Aneignung findet nicht im luftleeren Raum statt. Im Gegenteil, der Stadt-Land-Gegensatz wird politisch wie auch medial immer wieder neu herausgearbeitet und als Identifikationsangebot vorgelegt.
Wie ist die Lage vor Ort? Tatsächlich besteht eine gewisse Unzufriedenheit in ländlichen Gegenden, die zum Beispiel auf die schlechtere Versorgung mit öffentlichen Gütern oder auch auf den Abbau von Arbeitsplätzen zurückzuführen ist, während grosse Metropolen und Universitätsstädte boomen. Der Autor behandelt in erster Linie die Situation in Deutschland, die sich nicht in allen Teilen auf die Schweiz übertragen lässt. Das gilt auch für die von Haffert festgestellten Repräsentationsdefizite real existierender Demokratien. So ist die Untervertretung der ländlichen Bevölkerung und «ländlicher» Sichtweisen in der deutschen Politik und besonders in den Berliner Parteiapparaten deutlich ausgeprägter als in der Schweiz, wo gerade die Landwirtschaft ein massgeblicher Machtfaktor ist, und die ländlichen Regionen insbesondere im Ständerat oder beim Ständemehr grosses Gewicht haben.
Städter:innen als Feindbild
Spannend schildert Haffert verschiedene internationale Phänomene, die sich auf der Folie eines Stadt-Land-Konflikts lesen lassen. Dazu gehören der «Brexit» und die Proteste der «Gilets jaunes» ebenso wie der Aufstieg Donald Trumps. Ein kosmopolitischer Lebensstil verkörpert hier jeweils das Feindbild. Auch in der Schweiz wirkt der Stadt-Land-Konflikt auf Argumente und Entscheide – man denke zum Beispiel an die Abstimmung über das CO2-Gesetz, das Jagdgesetz oder über verschiedene landwirtschaftliche Vorlagen. Dabei ist gerade auch für politische Parteien die Frage wichtig, weshalb dieser Gegensatz so hohes Mobilisierungspotenzial hat. Haffert begründet dies damit, dass es sich um ein sowohl wirtschaftlich als auch kulturell wirksames Konzept handelt.
Das Buch endet bewusst mit offenen Fragen, denn einfache Lösungen sind laut Haffert häufig trügerisch, und Umkehrschlüsse unwahrscheinlich: Die Schaffung neuer Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern wird die AfD nicht wieder zum Verschwinden bringen – umso dringender bleibt die Frage, wie wir Gegensätze überbrücken und gemeinsam eine solidarische Politik voranbringen können.
Lukas Haffert: Stadt, Land, Frust. Eine politische Vermessung, München 2022.