Anfang Woche titelte der Tages Anzeiger «Weltweit schrumpft der Anteil der Arbeitseinkommen an der Gesamtproduktion. Doch die Schweiz ist ein Sonderfall». Weiter unten im Text wird ausgeführt, was für ein Sonderfall gemeint ist: «In den letzten Jahren ist der Anteil der Löhne in der Schweiz sogar angestiegen» wird ein KOF-Ökonom zitiert. Das klingt gut, kann man so aber leider nicht ganz stehen lassen.
Die Lohnquote misst den Anteil der Löhne an den gesamtwirtschaftlicher Produktion. Nun kann man den kumulierten Löhnen natürlich verschiedene Grössen gegenüberstellen. Die KOF-Ökonomen, auf die sich der Tagi stützt, stellen die Löhne dem Bruttoinlandprodukt BIP gegenüber. Eine bessere Grösse ist das Volkseinkommen. Dieses misst alle Einkommen, inklusive der im Ausland erzielten Löhne, Gewinne und Vermögenseinkommen. Abgezogen werden Einkommen, die aus der Schweiz abfliessen. Gerade in einer so stark globalisierten Volkswirtschaft (die also viele ihrer Einkommen im Ausland verdient) kann dieser Unterschied schnell einen erheblichen Unterschied machen.
Der Denknetz-Ökonom Hans Baumann veröffentlicht jedes Jahr im Denknetz-Jahrbuch die Lohnquote nach dieser Berechnung (auf seine Publikationen stützt sich dieser Blog). Nimmt man diese Zahlen zur Grundlage, zeigen sich zwei Dinge:
- Die (bereinigte) Lohnquote ist seit 2008 stabil, resp. sogar leicht gesunken. Von 56.4% auf 53.8% 2016.
- In der längeren Frist seit Mitte der 90er Jahre sinkt die Lohnquote sogar deutlich ab, siehe Grafik1:
Vergleicht man nun die Statistiken von Baumann mit der KOF-Berechnung (schwarze Linie in der nachfolgenden Grafik) zeigt sich, das letztere die Lohnquote konstant überschätzt. Für die bereinigte Lohnquote wird die Lohnsumme für den Anteil der Arbeitnehmenden an den Gesamtbeschäftigten gewichtet:
Quelle: Baumann, 2014
Richtig ist allerdings, dass, egal auf welche Berechnungsgrundlage wir uns stützen, der freie Fall der Lohnquote wie er teilweise in anderen europäischen Ländern zu beobachten ist, nicht stattgefunden hat. Baumann sieht zwei Hauptgründe dafür: Erstens die überdurchschnittlich gestiegenen Löhne ganz oben (Stichwort: Abzocker) und zweitens die reale Verbesserung der Tieflöhne.
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund hat für den Verteilungsbericht 2011 die Lohnquote unter Auslassung des obersten 1 Prozent berechnet. Resultat: Zwischen 1997 und 2007 ist die Lohnquote für die 99 Prozent um 3% gesunken. Dieser Trend dürfte sich kaum umgekehrt haben. Im Gegenteil: Auch zwischen zwischen 2008 und heute hat der Anteil des obersten Prozentes am Gesamtlohnkuchen weiter zugenommen. Baumann schätzt für für die Lohnquote der 99 Prozent einen Rückgang um mindestens 5% seit Mitte der 1990er Jahre.2
Quelle: SGB-Verteilungsbericht 2001, S. 11
Eine letzte Bemerkung: Tatsächlich konnte in der Schweiz bisher nicht nur die Bildung eines flächendeckenden Tieflohnes verhindert werden (wie z.B. in Deutschland), sondern die Tieflöhne wurden in letzten Jahren sogar angehoben. Einer der Hauptgründe dafür liegt darin, dass die traditionell gewerkschaftsfeindliche Schweiz ab Mitte der 2000er Jahre plötzlich einen sprunghaften Anstieg an Gesamtarbeitsverträgen erlebt – sowohl was deren Anzahl als auch unterstellte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angeht.
Nun, die Erklärung dafür liegt auf der Hand: Zum einen haben die Schweizer Gewerkschaften in dieser Frage schlicht einen sehr guten Job in den Branchen und Betrieben gemacht. Zweitens hat die Schweizer Linke dank dem Referendum verheerende Arbeitsmarktreform verhindern oder bereits im Parlament begraben können. Drittens aber traten 2004 die so genannten flankierenden Massnahmen in Kraft, die es einfacher machen, GAVs allgemeinverbindlich zu erklären. Die flankierenden Massnahmen wiederum wurden nur eingeführt, weil die Gewerkschaften sie zur Bedingung machten für das Ja zur Einführung der Personenfreizügigkeit mit den EU-Staaten. Das dürfte jetzt dem einen oder anderen ziemlich im Hals stecken bleiben, aber es ist so: Die vergleichsweise gute Position der Arbeitnehmenden in der Schweiz (gemessen an der Lohnquote zumindest) gerade am unteren Ende der Lohnskala, gibt es nicht zuletzt dank der EU.
Für alle, dies genau interessiert: Hans Baumann hat alle hier behandelten Fragen in einem hervorragenden Artikel für die Ökonomenstimme leicht verständlich behandelt.
1 Zahlen und Grafik sind eine Vorabveröffentlichung aus dem Denknetz Jahrbuch 2017. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
2 Alle Zahlen und Berechnungen in diesem Abschnitt: http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2014/07/zur-diskussion-der-lohnquotenentwicklung-ist-die-schweiz-eine-ausnahmeerscheinung/