Swissness

Thomas Hardegger, Nationalrat ZH

Thomas Hardegger, Nationalrat ZH
1.-August-Rede in Oberglatt ZH, Stadel ZH und Affoltern am Albis ZH

Liebe Besucher der Bundesfeier, sehr verehrte Damen und Herren

Die 1.August-Feier bietet ja gewöhnlich Gelegenheit, über die Herausforderungen unseres Landes und Gesellschaft nachzudenken.
Welche schweizerischen Eigenheiten sind denn zukunftstauglich? Heute spricht man allerdings neudeutsch „Swissness“, das ist cooler und trendy.

In der letzten Session haben wir im Nationalrat die „Swissness-Vorlage“ verabschiedet. Neu geregelt wurde, wann Produkte schweizerisch sind: Immerhin wurde festgestellt, dass ein Produkt mit der Qualitätsangabe „Made in Switzerland“ bis zu 40 Prozent teurer verkauft werden kann. Das Gesetz sagt darum, wie viel Schweiz in einem Produkt sein muss, damit dann Schweiz darauf stehen darf. Bei den Lebensmitteln sind es 80% der Rohstoffe, bei den industriellen Produkten sind es 60% der Herstellungskosten. Fazit ist also: Es kann im Gesetz nachgelesen werden, wann ein Produkt schweizerisch ist.
Wie sieht es aber in der Gesellschaft aus? Haben wir als Gesellschaft auch Swissness-Qualitäten. Eigenschaften, die uns zukunftstauglicher machen? Oder sind es nur Mythen, an denen wir uns festklammern? Diese Diskussion ist notwendig. Die einen sehen die Schweiz durch das Ausland bedroht. Andere vermissen die Welt von früher, die viel besser war. Wieder andere glauben, dass das Geld alleine die Schweiz ausmacht. Ich präsentiere Ihnen fünf Swissness-Eigenschaften: Sind die unser Erfolgsrezept für die Zukunft? Entscheiden sie selbst.

Swissness 1 – In der Schweiz wird Rücksicht auf Minderheiten genommen und Solidarität mit den Schwächeren gepflegt
Lösungen, die auch Minderheiten und alle Regionen berücksichtigen, gehören zum schweizerischen System. In der Verkehrskommission des Nationalrats haben wir den Ausbau des Schienenverkehrs diskutiert. Wo wird wie viel Geld investiert? Nun würde man annehmen, dass das Geld dort investiert wird, wo der Nutzen pro Einwohner am grössten ist. Dann müsste der grösste Teil des Geldes in den Grossraum Zürich fliessen. Das funktioniert in unserem föderalen System aber nicht. Alle müssen berücksichtigt werden, denn die kleinen Kantone überstimmen sonst die grossen. So wird im Kompromiss die Strecke Zürich – Winterthur erst in der nächsten Phase ab 2025 mit dem Brüttener Tunnel richtig ausgebaut. Die Strecke St.Gallen – Chur, die viel weniger belastet ist, aber schon vorher.

Auch innerhalb der Gesellschaft ist die Solidarität der Kitt, der uns zusammenhält. Genauso haben wir die AHV/IV eingerichtet und so ist auch das Krankenversicherungsgesetz zur Grundversicherung und zu den Krankenkassen ausgestaltet. Diese Solidarität zwischen Bessergestellten und den Schwächeren, Gesunden und Kranken,  wird zusehends in Frage gestellt. Wenn es um Kosten geht, die unserer älteren Generation ein würdiges Alter ermöglichen, wird vor allem um die Kostenverteilung gestritten: Ein bisschen mehr für die Gemeinde, ein bisschen weniger für die Krankenkassen, ein bisschen Mehr für die Pflegebedürftigen. Für Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben, die ihre Versicherungsprämien bezahlt haben, die sich in der Gesellschaft engagiert haben, ist dies eine sehr unwürdige Diskussion. Es muss ihnen vorkommen, dass sie nur noch als Kostenfaktoren wahrgenommen werden.

Auch die Krankenkassen machen mit immer ausgeklügelteren Systemen Jagd nach sogenannt guten Risiken und missachten so die Grundidee der Solidarität. Die Kassen müssen sich nicht wundern, wenn die Schweizerinnen und die Schweizer bei der Abstimmung über die öffentliche Gesundheitskasse dies wieder korrigieren.

In der Verfassung haben wir Schweizerinnen und Schweizer in einer gesellschaftlichen Vereinbarung die Solidarität bei den Steuern festgelegt: Jeder wird seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gemäss besteuert. Und es steht nicht, dass der Steuerberater nach Steuerschlupflöchern suchen soll.

Die letzten Abstimmungen zu Steuervorlagen haben gezeigt: Wenn dem Gerechtigkeitsgefühl der Stimmberechtigten nicht Rechnung getragen wird, haben solche Vorlagen keine Chance. Es wird nicht akzeptiert, wenn sich eine Gruppe aus der Mitverantwortung für den Wohlstand für die ganze Bevölkerung verabschieden will.

Swissness 2 – Arbeitsmoral und Teamgeist sind die Grundlage des wirtschaftlichen Erfolges der Schweiz
Dass es der Schweiz so gut geht – jedenfalls einem grossen Teil der Einwohnerinnen und Einwohner –, hat mit der Zuverlässigkeit unseres Systems zu tun. Die Behörden sind verlässlich, Anordnungen gelten und sind für alle gleich. Die Korruption ist vergleichsweise gering und der soziale Frieden verschafft Stabilität. Auch die Arbeitsmoral ist hoch.

Diese schöne Bild hat in letzter Zeit Risse bekommen. So gibt es Grossunternehmen, die mit ihren hohen Verwaltungsratshonoraren und Managerlöhnen jedes vernünftige Mass verloren haben. Damit gefährden sie die Arbeitsmoral. Bei den ersten Anzeichen der Rezession zahlen zuerst die tiefen Einkommen, vielleicht gar mit dem Verlust des Arbeitsplatzes. Das schadet der gesamten Wirtschaft.

Wenn Manager mit fremdem Geld hohe Risiken eingehen, wenn der schnelle persönliche Gewinn wichtiger ist als die Arbeitsplätze der Mitarbeiter, dann entspricht das nicht den unseren Vorstellungen von Teamgeist. Wir sitzen dann nicht mehr alle im gleichen Boot. Nein, einige haben sich dann in der Luxusjacht aus dem Staub gemacht. Ein paar Wenige haben die Swissness-Tugend „Mitverantwortung“ verloren und sie gefährden dann den Erfolg aller, des ganzen Wirtschaftsgefüges.

Swissness 3 – Bei uns hat das Volk hat das letzte Wort
Unsere direkte Demokratie lädt die Stimmberechtigten regelmässig dazu ein, Stellung zu beziehen und die politische Richtung zu bestimmen.

Dass das Volk das letzte Wort hat, ist ein paar Leuten unangenehm.  Letzthin hat der CEO von Lindt und Sprüngli, Ernst Tanner, in einem Interview gesagt, die ständige Frage um die Berechtigung seines Lohnes gehe ihm langsam auf die Nerven: er verdient ja auch „nur“ 6.4 Millionen Franken im Jahr. Die Stimmberechtigten haben aber beschlossen, dass man darüber spricht. Und sie haben bei Abstimmung über die Abzocker-Initiative klar Stellung bezogen.

Viele Wirtschaftsführer sind sich zu schade dafür, sich um Politik und Gesellschaft zu kümmern. Sie verkennen, dass sie so auch das Gefühl dafür verlieren, wie die Menschen die wirtschaftliche Entwicklung erleben. Die Politik soll sich sowieso nicht einmischen, sagen sie, dann läuft es für die Wirtschaft am besten. Wenn aber etwas schief läuft, ertönt schnell der Ruf: Die Politik muss sofort eingreifen. So hat sich die UBS an den Rand des Ruins spekuliert, – und sich von der Politik dann retten lassen. Leider haben die Führungskräfte wenig dazugelernt: Schon zahlen sie wieder Millionensaläre und Boni in Milliardenhöhe aus. Steuern für das Gemeinwesen, das sie in der Not dann zu retten hat, können sie aber noch keine bezahlen.

Im November kommt die 1:12-Initiative zur Abstimmung und die Stimmberechtigten haben wiederum das Recht, unbequeme Fragen zu stellen und ihre Meinung mit dem Stimmzettel kund zu tun.

Swissness 4 – Wir sind selbstbewusst, aber nicht überheblich
Wenn ich die Nachrichten verfolge, bekomme ich den Eindruck, die Schweiz werde ständigen Angriffen ausgesetzt: „Wirtschaftskrieg“, „die Schweiz im Würgegriff“, „Bussen in Milliardenhöhe für Schweizer Unternehmen“. Das sind die Schlagzeilen in den Medien. Ist die Schweiz jetzt existentiell bedroht? Sind sie neidisch auf unseren Erfolg?

Nein, das Ausland braucht eine erfolgreiche Schweiz, sie haben alles Interesse, dass es der Schweiz gut geht. Mit Stolz dürfen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir bezüglich Innovation immer noch einen Spitzenrang einnehmen. Ein stabiles Land mit funktionierenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen, nützt Europa und der Welt.

Die anderen Länder wollen aber auch ihre berechtigten Interessen durchsetzen. So akzeptieren sie nicht mehr, dass einzelne Schweizer Institute mithelfen, die Steuerflüchtlinge anzulocken. Auch dann nicht, wenn sie Uli Hoeness oder Johnny Hallyday heissen.

Leute, die jahrelang mit der Steuerfluchthilfe viel Geld verdient haben, versuchen heute unsere Schweiz als Opfer darzustellen. Sie beschwören uns, wir müssten als Nation zusammenstehen und Widerstand leisten. Die Länder wenden sich aber nicht gegen die Schweiz, sie wenden sich nicht gegen den Handel und nicht gegen die Zusammenarbeit. Sie haben aber etwas gegen Personen und Firmen, die die Gesetze in ihren Ländern missachten.

Nein, wir sind nicht von Feinden umzingelt, aber Europa organisiert sich in der Finanzkrise neu. Das hat auch Auswirkungen auf uns. Wir sind nicht in der EU, wir sind aber ein Teil Europas. Und so sind wir auch mit dem Schicksal von Europa verbunden, sowohl wirtschaftlich wie auch gesellschaftlich. Wir werden weitere Zusammenarbeitsverträge mit der EU brauchen und sie auch abschliessen. Beide Seiten wissen, dass das Interesse auf beiden Seiten liegt. Wir müssen selbstbewusst verhandeln, aber nicht überheblich. Proaktiv mit guten Ideen vorzupreschen ist gescheiter als zu warten, bis wir wieder unter Druck stehen.

Swissness 5 – Die Schweiz ist lernfähig und bereit für Veränderungen
Im Jahr 1876 – vor 137 Jahren bereits – ist in der Schweiz das Waldgesetz in Kraft getreten. Die Waldfläche darf sich in der Gesamtheit nicht mehr verkleinern. Soviel wie gerodet wird, muss auch wieder aufgeforstet werden. Das ist genau das Prinzip der Nachhaltigkeit. Bereits unsere Vorfahren haben gewusst, dass wir beim Verbrauch von unseren natürlichen Ressourcen auch an unsere Kinder und Enkel denken sollten.

Solche Fragen sind heute so aktuell wie eh und je: Die Energiewende mit dem Atomausstieg, der Artenschutz, die Gentechnik, der Kulturlanderhalt, die Grenzen des Wachstums. Wir alle führen engagierte Diskussionen zu diesen Herausforderungen. Und wenn wir entschlossen sind, dann finden wir gute Lösungen. Innovative Lösungen ohne Komfortverlust, aber vielleicht auch dank der Bereitschaft, einige Gewohnheiten zu ändern. Immer haben wir uns zu fragen: „Wie können wir unseren nachfolgenden Generationen eine nachhaltig intakte Welt hinterlassen?“

Unsere Kinder und Enkel werden sich in 20 Jahren nicht an den heutigen Börsenkursen orientieren. Sie werden aber beurteilen, was Ihnen die Ausbildung geholfen hat und ob ihnen das Gefühl vermittelt worden ist, dass sie in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft gebraucht werden.

 

Sie sehen, wir haben durchaus Swissness-Qualitäten. Sie haben uns wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg gebracht und sie sind es wert gepflegt zu werden. Wir sind aber auch nicht so einzigartig, dass andere diese Qualitäten nicht auch entdeckt haben und sie nicht auch anwenden.

Damit wir unsere Swissness an die Zeit anpassen und Fehlentwicklungen korrigieren können, haben wir die Direkte Demokratie: Sie ist eine wichtige Errungenschaft unseres Bundesstaat und unsere Chance – wenn wir sie kreativ einsetzen und nutzen.

Ich wünsche Ihnen allen eine schöne Bundesfeier.

Ansprechpartner:innen zu diesem Thema

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