Das Parlament hatte es sehr eilig: Noch selten wurde eine Gesetzesänderung so schnell beschlossen wie die Einführung der Überwachung der Versicherten. Von der Parlamentarischen Initiative bis zur Schlussabstimmung im Parlament dauerte es nur gerade sechs Monate. Die neue Gesetzesgrundlage war nötig, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) festgestellt hatte, dass die Schweiz über keine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Observation von Versicherten verfügt. Die bisher praktizierte Überwachung der Versicherten musste deshalb gestoppt werden. Der Vorfall zeigt übrigens auf, weshalb die gleichzeitig zur Abstimmung kommende Selbstbestimmungs-Initiative abgelehnt werden muss: Dank des Urteils des Menschengerichtshofs kam die Schweizer Bürgerin, die sich gegen ihre Überwachung zur Wehr gesetzt hatte, zu ihrem Recht. Bei einem Ja zur Initiative müsste die Schweiz den entsprechenden Vertrag vielleicht kündigen.
Überwachung neu bei allen Sozialversicherungen
Gegen die im Schnellzugstempo verabschiedete gesetzliche Grundlage für die Überwachung von Versicherten wurde das Referendum ergriffen, das auch von Travail.Suisse unterstützt wurde. Dank dieses Referendums findet jetzt eine öffentliche Diskussion zur Observation von Versicherten statt. Die Befürworter wollen glaubhaft machen, dass im Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) nur die Observation von IV- und Sozialhilfe-Bezügern geregelt wird – wie es vor dem Gerichtsurteil vom Oktober 2016 schon gemacht wurde. Das ATSG enthält aber Regelungen, die vom Grundsatz her in allen Sozialversicherungszweigen – mit Ausnahme der beruflichen Vorsorge – zur Anwendung kommen. Also auch bei der AHV, bei den Krankenkassen oder bei den privaten Unfallversicherungen. Es könnten künftig also alle Sozialversicherungen ihre Versicherten überwachen und jede Bürgerin und jeder Bürger könnte potenziell Opfer einer Observation werden.
Versicherungen entscheiden selber, wer überwacht wird
Der Staat hat damit die Möglichkeit, die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger zu stören, stark erhöht. Die Hürde zur Überwachung der Versicherten wurde vom Parlament sehr tief angelegt. Die Sozial- und Unfallversicherungen könnten selber über eine Observation entscheiden und private Detektive damit beauftragen. Der Entscheid, ob der Anfangsverdacht für eine Überwachung genügt, läge allein in ihrem Ermessen. Es bräuchte keine richterliche Begutachtung des Antrages und keine unabhängige Stelle würde prüfen, ob der Eingriff in die Privatsphäre gerechtfertigt ist. In der parlamentarischen Beratung entschied die zuständige Kommission zwar zuerst, dass die Versicherungen für die Überwachung eine richterliche Genehmigung einholen müssen. Nach intensivem Lobbying der Suva und des Schweizerischen Versicherungsverbandes änderte die gleiche Kommission an ihrer nächsten Sitzung allerdings ihre Meinung und strich diese Bestimmung wieder (nur für die Standortbestimmung von Personen mit GPS-Trackern ist eine richterliche Genehmigung erforderlich). Die Begründung, dass der Aufwand für das Einholen einer richterlichen Genehmigung hoch ist, ist nicht stichhaltig, wenn die Überwachung tatsächlich als letztes Mittel eingesetzt werden soll, wie das die Befürworter behaupten. Im Gegenteil. Ein rechtsstaatlich sauberes Vorgehen ist unabdingbar, weil in krasser Weise in die Privatsphäre einer Person eingegriffen wird. Gerade private Versicherungen, die Gewinne erwirtschaften müssen, könnten ansonsten von der neuen Regelung grosszügig Gebrauch machen.
Überwachung ist eine hoheitliche Aufgabe
Sozialversicherungsmissbrauch ist gemäss Art. 148a des Strafgesetzbuches strafbar und muss geahndet werden. Die Aufklärung gehört aber in die Hände von Polizei und Justiz und darf nicht den Versicherungen und ihren Privatdetektiven überlassen werden, wie das die Gesetzesänderung vorsieht, über die wir am 25. November 2018 abstimmen werden. Der Bundesrat hat vor einigen Tagen den Entwurf der Verordnung publiziert und die Anforderungen an die Personen präzisiert, die Observationen durchführen würden. Dieser Vorschlag darf indes nicht verschleiern, dass es private Personen bleiben, die den Eingriff in die Grundrechte vornehmen würden. Solche Aufgaben dürfen nicht privatisiert werden! Kommt hinzu, dass das Bundesgericht bisher auch illegal beschaffte Beweise zugelassen hat. Dies lädt auch ausgebildete private Detektive ein, Grenzen zu überschreiten. Das Parlament hat ihnen bereits mit dem Gesetz mehr Möglichkeiten für die verdeckte Observation gegeben als der Polizei. Indem ein Generalverdacht auf alle Bezügerinnen und Bezüger von Leistungen der Sozialversicherungen gelegt wird, wird dem Denunzieren Tür und Tor geöffnet. Den erfolgsabhängigen Privatdetektiven wären viele Hinweise noch so recht. Für den Gewerkschafts-Dachverband Travail.Suisse, den ich präsidiere, ist klar: Observationen sollen nur mit richterlicher Genehmigung erlaubt sein!
Das Problem nicht grösser machen als es ist
Die Diskussion rund um den Missbrauch wird in der Öffentlichkeit immer wieder anhand von drastischen Einzelfällen geführt. Es darf aber nicht vergessen werden, dass es sehr viele Menschen gibt, die durch Schicksale auf die Unterstützung durch eine Sozialversicherung oder die Sozialhilfe angewiesen sind, um ein würdiges Leben führen zu können. Der Missbrauch bei den Sozialversicherungen ist zu verurteilen und angemessen zu ahnden. Es gilt aber die Relationen zu wahren. Der geschürte Generalverdacht darf bedürftige Personen nicht vom Bezug einer Leistung abhalten. Mit der Ablehnung der Vorlage am 25. November 2018 kann das Parlament dazu angehalten werden, eine rechtsstaatlich saubere Lösung für die Überwachung der Versicherten vorzuschlagen.