Ausgangslage
Die Politbeobachter sind sich einig: Die Bundesversammlung wird nach den Wahlen im Oktober sozialer, feministischer und ökologischer sein. In meinen Augen ist dieser Optimismus aber gefährlich. Wir sollten uns nicht zu früh in falscher Sicherheit wiegen.
Mit ihrem abstossenden Wahlplakat hat sich die SVP kürzlich zurück auf die Titelseiten der Zeitungen gekämpft. Obwohl sie – wie leider üblich – keine konstruktiven Vorschläge für unser Land macht, müssen wir auf der Hut sein: Denn ihre klassische Strategie der Ausgrenzung und Stigmatisierung könnte sich auszahlen. Die Wahlergebnisse in einigen Nachbarländern und auf der anderen Seite des Atlantiks zeigen uns, dass die altbekannte Methode nach wie vor funktioniert. Angesichts des angekündigten Rückgangs von CVP und BDP ist es durchaus möglich, dass SVP und FDP ihre absolute Mehrheit im Nationalrat halten können. Überdies könnten die beiden im Ständerat sogar noch stärker werden: Ein leichter Zugewinn für die FDP und der Verlust von ein oder zwei Sitzen der CVP würden ausreichen.
Es wäre aber naiv anzunehmen, dass die rechtsbürgerliche Mehrheit so ungeschickt weitermachen, sollte sie fortbestehen oder sogar verstärkt werden.
Während der vergangenen Legislatur begann die rechte Mehrheit, ihre Pläne voranzutreiben. Glücklicherweise geschah dies aber oft auf chaotische Art und Weise. Als die Rechten dann steuerpolitisch so richtig durchstarten wollten, hat ihnen das SP-Referendum gegen die USR III den Wind aus den Segeln genommen. Es wäre aber naiv anzunehmen, dass die rechtsbürgerliche Mehrheit so ungeschickt weitermachen, sollte sie fortbestehen oder sogar verstärkt werden. Ganz im Gegenteil: Zusammen mit den grossen Lobbyverbänden von rechts verfolgen FDP und SVP eine detaillierte Agenda. Aus meiner Sicht konzentrieren sie sich dabei auf die folgenden sieben Hauptprojekte. Jedes von diesen ist äusserst gefährlich.
1. Privatisierung des Gesundheitswesens
In der Herbstsession werden die Krankenkassen erneut versuchen, die freie Arztwahl aufzuheben, damit die Kassen bestimmen können, welche Ärzte ihnen genehm sind und welche nicht. Indem sie in den Krankenhaussektor eindringen oder sich mit Gruppen verbünden, die in diesem Markt tätig sind, streben sie mehr Macht im Gesundheitsbereich an. Ihr Ziel ist klar: Sie wollen den Kantonen jede Möglichkeit zur Regulierung der Versorgung entziehen, insbesondere bei Spitälern und Ärzten. So wollen sie den Sektor unter ihre Kontrolle bringen. Die Kantone wäre so nur noch Geldgeber, die nichts zu sagen haben. Es ist zu befürchten, dass sie nach und nach ihre eigenen Spitäler aufgeben würden.
Die bürgerlichen Parteien und Lobbyisten arbeiten weiter daran, ein Gesundheitssystem aufzubauen wie in den Vereinigten Staaten.
Natürlich sind die Versicherer nicht an den komplexen Fällen von chronischen Patienten interessiert. Im Gegenteil, sie versuchen lediglich lukrative und unkomplizierte Fälle anzunehmen. Dank mehrerer Referenden ist es uns gelungen, diese Logik des Profits zu bremsen. Aber die bürgerlichen Parteien und Lobbyisten arbeiten weiter daran, ein Gesundheitssystem aufzubauen wie in den Vereinigten Staaten: Dort macht der Gesundheitssektor mit 17% den höchsten Anteil am BIP aus. Gleichzeitig haben aber grosse Teile der Bevölkerung keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Derzeit werden im Parlament mehrere entsprechende Gesetze diskutiert. In der Hoffnung, nach den Wahlen ihre Agenda durchsetzen zu können, haben die Rechten das Tempo der Beratungen bereits verlangsamt.
2. Aushöhlung der Klimapolitik
Auch wenn die klimapolitische Wende der FDP-Parteileitung sogar ernst gemeint ist: An der Haltung der FDP-Nationalratsfraktion hat dies nichts geändert. Diese vertritt immer noch dieselben Lobbys und kann sich nicht vom Einfluss der SVP lösen. Deren Präsident Albert Rösti ist bekanntlich Präsident von Swissoil. Darüber hinaus kann die FDP aufgrund ihrer ultraliberalen Ideologie nicht zugeben, dass die Energiemärkte weitgehend dysfunktional sind und nicht in der Lage sind, ausreichende Investitionen in die Infrastruktur zur nachhaltigen Stromproduktion auszulösen.
Unter dem Vorwand, die Kosten tief zu halten, werden SVP und FDP versuchen, nicht den Verbrauch fossiler Energien im Inland zu senken, sondern Emissionszertifikate im Ausland zu kaufen. Der reine Ablasshandel. Mit dem gleichen Argument werden sie für Stromimporte anstelle von Investitionen in der Schweiz werben. Ganz konkret werden sie die Mittel für die Klima- und Strompolitik kürzen. Denn genau das haben sie im Dezember 2018 bereits während der Klimadebatte im Nationalrat getan.
Wer glaubt, die grünen Versprechen der FDP würden nach den Wahlen noch aktuell sein, wird ein böses Erwachen erleben.
Wer glaubt, die grünen Versprechen der FDP würden nach den Wahlen noch aktuell sein, wird ein böses Erwachen erleben. Sollten FDP und SVP auch in der nächsten Legislatur eine Mehrheit haben, werden sie sowohl bei der erneuten Behandlung des CO2-Gesetzes im Nationalrat als auch bei der bevorstehenden Revision des Stromversorgungsgesetzes alles unternehmen, um eine nachhaltige Klima- und Energiepolitik zu sabotieren.
3. Steuergeschenke für Grossbanken und Holdinggesellschaften
In der zweiten Hälfte der Legislatur planten die Rechten die vollständige Abschaffung der Stempelsteuer zugunsten der Banken. Doch das von der SP lancierte Referendum gegen die USR III und die daraus resultierende Notwendigkeit, eine akzeptable Alternative (STAF) zu erarbeiten, zwangen SVP und FDP, die Abschaffung auf später zu verschieben.
Es profitieren nicht diejenigen, die ihren Lebensunterhalt mit harter Arbeit verdienen, sondern Leute, die von Dividenden leben.
Aber das Projekt wird schnell wieder aus der Schublade genommen, sollte die Rechte ihre Vormachtstellung halten oder gar ausbauen können. Inzwischen haben SVP und FDP am Rande der Revision des Aktienrechts einen perversen Mechanismus aufgegleist. Es handelt sich um eine Art „Agio-Pumpe“: Sie ermöglicht es, durch Erhöhungen und Herabsetzungen des Eigenkapitals Geld aus Holdinggesellschaften dividendensteuerfrei abzuziehen. Davon profitieren natürlich nicht diejenigen, die ihren Lebensunterhalt mit harter Arbeit verdienen oder von der AHV und der zweiten Säule abhängig sind, sondern Leute, die von Dividenden – sprich von ihrem Geld – leben.
4. Beendigung der Schweizer Teilnahme am europäischen Binnenmarkt und Beerdigung der flankierenden Massnahmen
Vor der Wahl von Ignazio Cassis und Guy Parmelin in den Bundesrat verfolgten FDP und SVP in der Europapolitik deutlich unterschiedliche Ziele. Die SVP versuchte, die Bilateralen zu beenden, während die FDP sie aufrechterhalten wollte. Dazu akzeptierte der Freisinn die flankierenden Massnahmen (FlaM). Die FDP anerkannte implizit die Wichtigkeit des Lohnschutzes, einerseits für eine gerechte Verteilung der wirtschaftlichen Vorteile der Öffnung und andererseits für einen politischen Konsens über die Beteiligung der Schweiz am europäischen Binnenmarkt.
Indem Ignazio Cassis wiederholt gegen die FlaM schiesst, zerschneidet er das Band, das uns mit Europa verbindet. Der isolationistische Diskurs der SVP sowie die Faszination der FDP für den ungebremsten Freihandel à la Johnson und Mercosur befördern die Kündigungsinitiative, die wir in dieser Session beraten. Sollte diese Initiative akzeptiert werden, würde die Schweiz in ein ähnliches Chaos wie Grossbritannien stürzen. Die mit dem Freizügigkeitsabkommen verbundenen FlaM würden abgeschafft. Und selbst wenn das Volk diese gefährliche Option ablehnt, ist die Festigung der bilateralen Abkommen sehr schwierig geworden.
Um endlich wieder konstruktive Fortschritte in der Europapolitik zu erreichen, müssen wir die Flankierenden Massnahmen in den Mittelpunkt stellen.
Um endlich wieder konstruktive Fortschritte in der Europapolitik zu erreichen, müssen wir neu anfangen. Wir müssen die FlaM wieder in den Mittelpunkt des Systems stellen, da sie das Vertrauen der Schweizer Bevölkerung in die wirtschaftliche Öffnung sicherstellen. Sollten SVP und FDP gestärkt aus den Wahlen hervorgehen, würde das Gegenteil der Fall sein. Nach einem brutalen oder allmählichen „Exit“ würde die Schweiz allein auf einem kleinen Freihandelboot inmitten des protektionistischen Sturms aus Washington segeln.
5. Volle AHV-Renten nur noch für Gutverdienende
Die Alterung der Bevölkerung ist ein ernstes Problem. Mit der Zustimmung zur zusätzlichen AHV-Finanzierung im Rahmen der STAF haben die Schweizer Stimmbürger_innen gezeigt, dass sie dies auch wissen. Aber der hartnäckige Wunsch der Wirtschaft und der rechten Parlamentsmehrheit, das Rentenalter zu erhöhen, hat mit der Sicherung der AHV-Finanzen nichts zu tun. Im Gegenteil, es geht ihnen um den Abbau der Solidarität. Menschen mit bescheidenen und durchschnittlichen Einkommen beziehen mehr Geld aus der AHV, als sie einzahlen. Mit anderen Worten: Die Renten werden weitgehend durch hohe und sehr hohe Einkommen finanziert. Mit der Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre versuchen Wirtschaftskreise und bürgerliche Parteien, diese Solidarität zu reduzieren. Für Menschen, die wenig verdienen oder die nicht länger arbeiten können, kommt das einer nackten Rentensenkung gleich. Die Erhöhung des ordentlichen AHV-Alters um zwei Jahre bedeutet nämlich, dass die Summe der Renten, die eine Person erhält, um durchschnittlich 10% sinkt. Schlimmer noch: Wenn diese Menschen nach einer Anhebung des Rentenalters trotzdem bereits mit 64 oder 65 Jahren in Rente gehen müssen, weil sie keinen Job mehr finden, müssen sie in diesen zwei Jahren ihr Leben selber finanzieren oder eine Reduzierung ihrer AHV um 14% akzeptieren.
Für Menschen, die wenig verdienen oder die nicht länger arbeiten können, kommt eine Anhebung des Rentenalters einer nackten Rentensenkung gleich.
Ganz konkret wird die Ende August 2019 vom Bundesrat verabschiedete Botschaft zur AHV der Rechten die Möglichkeit geben, das Rentengleichgewicht zugunsten der zweiten Säule und zum Nachteil der AHV zu kippen. Natürlich ist es möglich, das Referendum gegen eine solche Änderung zu ergreifen. Aber das Ergebnis einer Abstimmung ist nie sicher, und die Verfechter des Asozialen werden ihr Glück erneut versuchen.
6. Forcierung des Autobahnbaus
In der Frühjahrssession 2019 des Nationalrates zeigte die Dampfwalze aus SVP und FDP, zu was sie imstande ist: Die beiden Parteien unterbreiteten einen Vorschlag, die Zürcher Oberlandautobahn in die Projektplanung 2020–2023 aufzunehmen. Da zu diesem Projekt keine Zahlen vorlagen, musste die Debatte unterbrochen und die Vorlage an die Kommission zurückgeschickt werden. Glücklicherweise bereitet der Ständerat dem Unsinn ein Ende und schloss aus, über den Bau einer neuen Autobahn zu entscheiden, ohne über eine Kostenschätzung zu verfügen.
Der Slogan der Rechten ist ganz einfach: make car great again.
Diese Episode muss uns alarmieren, denn sie verdeutlicht, was passieren könnte, wenn sich die SVP-FDP-Achse entgegen zu optimistischer Prognosen verstärken würde. Da alle vier Jahre eine Botschaft zu Autobahnprojekten kommt und deren Finanzierung nun durch die Verfassung gewährleistet ist, könnte eine erstarkte rechte Mehrheit ein regelrechtes Feuerwerk des Autobahnbaus auslösen. Der jüngste Nichteintretensentscheid zur zweiten Etappe des Raumplanungsgesetzes zeigt, dass die Rechten nichts gegen die Zupflasterung unseres Landes unternehmen wollen. Auch in dieser Hinsicht spielt ihnen die Zeit in die Hände. Es wäre sehr überraschend, wenn sie dies nicht ausnutzen würden, sollten es ihnen die Machtverhältnisse erlauben. Ihr Slogan ist ganz einfach: make car great again.
7. Den Franken (zu) stark halten
Angesichts einer sehr schwierigen internationalen Währungssituation und einer durch Handelskriege und Brexit prekär gewordenen Weltwirtschaftslage kämpft die Schweizerische Nationalbank um die Stabilisierung des Franken. Diese Situation verursacht zwei schwerwiegende Probleme: Einerseits befördert der starke Schweizer Franken die Deindustrialisierung der Schweiz. Und andererseits sind die negativen Zinssätze, die zur Begrenzung ebendieser Aufwertung des Frankens eingeführt wurden, für die Pensionskassen und die Rendite ihrer Anlagen absolut verheerend.
Der starke Schweizer Franken befördert die Deindustrialisierung der Schweiz.
Angesichts dieser komplizierten Situation blockieren die neoliberalen Ideologen von SVP und FDP das einzig mögliche Gegenmittel, nämlich die Förderung öffentlicher und privater Investitionen in die Energiewende. Die SP meint: Anstatt die Verschuldung des Bundes weiter abzubauen, sollte ein Teil des Bundesüberschusses für die Co-Finanzierung privater Investitionen – insbesondere in die Energieeffizienz von Gebäuden, in nachhaltige Mobilität und in die Erzeugung von Ökostrom – verwendet werden. Das Ziel der öffentlichen Investitionsbeihilfen in diesem Bereich besteht darin, auch private Investitionen zu fördern. Dadurch wird Kapital für sinnvolle Investitionen eingesetzt. Gleichzeitig reduziert dies den Druck auf den Schweizer Franken. Leider blockiert die neoliberale Mehrheit solche Vorschläge vollständig, obwohl der Nutzen sowohl wirtschaftlich als auch klimapolitisch gegeben ist.
Die entscheidende Wahl
Diese sieben Themen sind nicht die einzigen Projekte der Rechten, aber sie verkörpern die Risiken, die eine zweite von SVP und FDP dominierte Legislatur für die Schweiz darstellt. Die jüngsten Manöver der FDP, sich ein grünes Mäntelchen überzuziehen, und der Versuch der SVP, alle Schuld den Ausländern und den anderen politischen Parteien zuzuschieben, sind Teil derselben Vernebelungstaktik. Ihr Ziel ist es, die Positionen im sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Bereich so vage wie möglich zu gestalten und sicherzustellen, dass die wahren Probleme und Fragen im Wahlkampf untergehen. Wenn ihre Strategie erfolgreich ist, werden sie die Mehrheit im Nationalrat halten und ihre Macht im Ständerat ausbauen.
Die jüngsten Manöver der FDP, sich ein grünes Mäntelchen überzuziehen, und der Versuch der SVP, alle Schuld den Ausländern und den anderen politischen Parteien zuzuschieben, sind Teil derselben Vernebelungstaktik.
Am 20. Oktober geht es um die Wahl zwischen einer ausgeglichenen, solidarischen, ökologischen und vernetzten Schweiz und einer Schweiz, die den Rechtspopulisten aus England, Brasilien oder den USA folgt. Eine Welt, in der die Macht des Stärkeren entscheidet, widerspricht nicht nur unseren Vorstellungen für die Zukunft der Menschheit. Sie wäre sehr ungünstig für die Schweiz als kleines Land und für die Bevölkerung.
Angesichts der internationalen Dynamik der letzten drei Jahre befinden wir uns an einem Wendepunkt: Wenn die Schweiz die Klimapolitik sabotiert, sich von Europa isoliert und ihre internen Solidaritätsmechanismen zerstört, werden die Auswirkungen weit über die kommende Legislaturperiode hinaus anhalten.
Wenige Wochen vor den Wahlen ist noch nichts entschieden. Nur eines ist sicher: Der Blick hinter den Kulissen zeigt, dass es um enorm viel geht.