Als Kind findet man alles was ein Bisschen anders ist, grundsätzlich spannend. Wenn die Mutter des Sandkastengschpänlis etwas anders spricht oder kocht: Interessant. Mädchen: Schwierig, aber sehr interessant. Grösseres Velo, mehr Spielzeugautöli: Gemein, aber sehr sehr erstrebenswert. Irgendwann beginnt, dann, dass sich ein Selbst, eine Identität bildet. Sie bildet sich natürlich nicht einfach so, sie entsteht in Erwartungen, Urteilen, Abgrenzungen und Zugehörigkeit.
Nun ist es das mit den Urteilen und den Abgrenzungen, was wir kaum mehr loswerden, wenn wir denn zugehörig sein wollen. Das fängt spätestens im Chindsgi an, wo man sich die Kamerädli ja nicht mehr aussuchen kann. Ich bin in Dietlikon aufgewachsen – also nicht weit von hier, aber weit genug, dass es mir nicht in den Sinn gekommen wäre, mich von den Schwerzenbachern abzugrenzen.
Als Dietliker Kind gab es zwei rote Linien zu beachten: Dorf oder Fadacher (die beiden Primarschulhäuser) sowie „oben oder unten vom Bahndamm“. Die Erwachsenen hätten wohl gesagt Migros (unten am Bahndamm) oder Coop (oben). In der Sek mischten sich dann die Dörfler mit den Fadachern und mit den Dietlikern von unterhalb der Bahn zu einer Gemeinschaft gegen die Brüttiseller. Als ich dann die Weltreise ans Gymi im exotischen Winterthur antrat, tat ich es mit einem Chläber „z’Züri dihei“ auf dem Etui und solidarisierte mich nun mit den Wallisellern und Klotenern. In der RS ging es dann auch mit den Winterthurern gegen die Schaffhauser und mit diesem in den WKs gegen die Welschen und mit diesen dann in der Politik dann gegen die Bürgerlichen. So ging das immer weiter bis nach Europa.
Und darum ist die Geschichte von Zugehörigkeit, von Solidarität und Abgrenzung, die Geschichte der Schweiz, die Geschichte jedes Menschen und jeder Gemeinschaft. Wir Schweizer haben sie perfektioniert. Dabei haben wir über Jahrhunderte hinweg nicht das Trennende, sondern das einigende, das gemeinsame geschaffen und entwickelt. Das Zweikammersystem, die Volksrechte, das Ständemehr, das Vernehmlassungsverfahren, den Finanzausgleich, die AHV und IV, die Sozialhilfe, auch das Vereinswesen, die Genossenschaften, die Krankenversicherung, aber ganz einfach auch das tägliche Miteinander.
Diese stolze, diese grossartige, funktionierende und prosperierende Schweiz die unsere Väter und viel zu spät unsere Mütter geschaffen haben, lebt von diesem Miteinander und nicht von der Abgrenzung. Und wenn es die dann braucht, dann bitte dort, wo es mit einem Augenzwinkern geschieht. Natürlich drücke ich Roger Federer die Daumen, dem FCZ, dem ZSC.
Aber beim Fussball kommt es mir dann nicht darauf an, ob der Torschütze für die Schweiz Shaqiri heisst oder in der Leichtathletik Frau Kambundji oder der Herr Hussein für uns gewinnen. Gemeinschaftsgefühl ist nämlich teilbar. Die Schweiz und ihr Erfolg auch die Geschichte der Immigration, der Integration, der Weltoffenheit, des Handels, der Neugier. Es ist auch die Geschichte einer aktiven Neutralität und der Suche, Frieden und Unversehrtheit weiter zu geben.
Wir sollten die politische Diskussion in unserem Land aus der Bauchnabelperspektive befreien. Allzu oft dachten wir in den vergangenen Jahren immer an die Anderen, wenn wir über uns sprachen. Die Welt gegen uns: Die Amerikaner, die Deutschen, natürlich die Ausländer und selbstverständlich die Bürokratie in Brüssel. Und immer mit dieser sehr eigenartigen Mischung aus Selbstüberhöhung und Minderwertigkeitskomplex. Dabei haben wir der Welt vieles zu bieten. Unser politisches System, der soziale, wirtschaftliche und kulturelle Ausgleich, die erfolgreiche Integrationspolitik. Aber auch in der Entwicklungszusammenarbeit, der Friedensdiplomatie oder in der humanitären Hilfe.
Vor allem aber haben wir die Kraft, unsere Verantwortung gegenüber der Welt und den Menschen auch wahrzunehmen und wir können sie nicht einfach delegieren. Europa zum Beispiel, das sind auch wir. Die ertrinkenden Flüchtlinge im Mittelmeer, das sind auch wir. Die Kriege, die Gewalt und der Hunger, das sind auch wir. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg waren so viele Menschen auf der Flucht – die Hälfte davon sind Kinder. Wir haben zusammen mit anderen die Macht und die Kraft, unsere Verantwortung diesen Menschen gegenüber zu tragen. Das ist genauso Teil unserer Tradition wie die Sorgfalt im Umgang mit unserem Sozialstaat und unserem sozialen Frieden. Lange erkämpft und die Grundlage unseres Wohlergehens. Auch das sind nicht die Anderen, auch das sind wir.
Ich möchte zur feierlichen Erinnerung aus der Präambel unserer Bundesverfassung zitieren:
„…gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.“
In diesem Sinne:
Vive la Suisse, viva la Svizzera, viva la Svizra, hopp Schwiiz!