Beim Einkaufen treffe ich immer wieder die Reinigungskraft, die im Büro gearbeitet hat, in dem ich als Schülerin in den Ferien mein Taschengeld aufgebessert habe. Sie lebt heute von ihrer bescheidenen Rente. Ihr Arbeitsleben endete abrupt: Ein knappes Jahr vor ihrer regulären Pensionierung wurde sie entlassen. Sie, die der Firma 33 Jahre lang die Treue gehalten hat, wurde aus Profitgründen durch ein externes, günstigeres und jüngeres Reinigungsteam ersetzt. Es sei weniger die Angst davon gewesen, wieder einen Job zu finden, die sie umgetrieben habe, erzählte sie mir einmal. Sie wusste, dass sie als ältere Frau nahezu keine Chance mehr hatte. Es sei vielmehr die Geringschätzung gegenüber ihrer Arbeit und ihr als Mensch gewesen, die sie tief getroffen habe.
Dieses Gefühl, nichts mehr wert zu sein und nicht über das eigene Leben bestimmen zu können, erleben Menschen Tag für Tag. Menschen, die auf die Strasse gestellt werden, weil sich ihr Arbeitsplatz nicht mehr rentiert – und sich danach als „arbeitsscheu und faul“ beschimpfen lassen müssen, wenn sie keine neue Stelle finden und auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Menschen, die trotz guter Arbeit nie einen besseren Lohn bekommen und immer zu hören bekommen, man müsse halt den Gürtel enger schnallen – während sie gleichzeitig sehen, wie die Bonis des Topmanagements von Jahr zu Jahr wachsen und die Steuern der Aktionäre gesenkt werden. Oder Menschen, die zunehmend frustriert und verunsichert sind vom Gefühl, nur wie eine Maschine zu funktionieren und nicht mitentscheiden zu können, was um sie herum geschieht.
Was haben wir dem entgegenzusetzen? Wir erkämpften Alters-, Invaliden- und Arbeitslosenversicherungen für alle und Ergänzungsleistungen oder wirtschaftliche Sozialhilfe für die, bei denen die Versicherungsleistung nicht ausreicht oder nicht greift. Wir setzen uns – mit mehr oder weniger Erfolg – dafür ein, dass die Krankenkassenprämien und Wohnungsmieten nicht immer grössere Löcher ins Portemonnaie reissen und dass die Rechte der Arbeitnehmenden mit Mindestlöhnen und GAVs gestärkt werden. Wir werden diese sozialen Errungenschaften, die das 20. Jahrhundert geprägt haben, auch im 21. Jahrhundert verteidigen und nach unseren Möglichkeiten auszubauen versuchen.
Das reicht aber nicht. Und genau hier setzt die Wirtschaftsdemokratie an. Sie lässt es nicht zu, dass die öffentliche Hand (das heisst: wir als Gemeinschaft) nur dort eingreifen soll, wo die Wirtschaft versagt oder sich aus der Verantwortung nimmt. Sie verweigert sich der Vorstellung, unseren politischen Handlungsspielraum darauf beschränken zu lassen, der sozialen Kälte der Rechten mit warmen Decken und heissem Tee zu begegnen.
Mit Wirtschaftsdemokratie fordern wir das ein, was für mich der Kern einer SP-Politik ist: Die Menschen in ihrer Würde und ihrer Selbstbestimmung anzuerkennen. Und damit auch anzuerkennen, dass nicht nur ein paar Privilegierte, sondern wir gemeinsam entscheiden können und sollen, wie wir zusammenleben wollen. Es ist selbstredend, dass dieses Prinzip nicht vor der «Wirtschaft» Halt machen soll. Eindrücklich und beispielhaft erzählt der schwedische Dokumentarfilm «Can we do it ourselves?» davon, was Wirtschaftsdemokratie bedeuten könnte (leider nur mit englischen Untertiteln). Er lässt Arbeitnehmende zu Wort kommen, die in genossenschaftlich organisierten Unternehmen arbeiten und diese gemeinsam voranbringen. Er spricht die Verantwortung der Gewerkschaften und der Öffentlichkeit an, sich ein grösseres Wissen über solidarische, ökologische Wirtschaftsformen anzueignen und dieses Wissen auch zu verbreiten und zu fördern. Und er zeigt an konkreten, erfolgreichen Beispielen auf, dass Wirtschaftsdemokratie weder realitätsfremd noch zukunftsfern ist – sondern bereits heute, wenn auch noch in viel zu geringem Masse, gelebte Wirklichkeit ist.