1. Einführung
Theoretisch zielt eine Initiative darauf ab, eine konstruktive Lösung für ein bestehendes Problem zu finden oder eine unbefriedigende Situation zu verbessern. Jedoch kennt das Initiativrecht keine Grenzen. Sie ermöglicht es auch, dem Volk gefährliche Vorschläge zu unterbreiten.
Die Initiative, über die wir am 27. September abstimmen, gehört leider zur zweiten Kategorie:
- Erstens zwingt sie die Schweiz dazu, ihre Beziehungen zu Europa zu kappen.
- Zweitens wird behauptet, eine Krise zu lösen, die es nicht gibt.
- Drittens schafft sie eine Reihe ernsthafter Probleme, die ohne die Initiative nicht existieren würden.
Die Debatte über diese Initiative kann diese drei Hauptfehler nicht ignorieren.
Volksinitiativen zielen auf die Änderung der Verfassung ab. Bevor wir also die Auswirkungen der Initiative auf die Menschen, die Gesellschaft, die Wirtschaft oder das Land betrachten, sollten wir die Formulierung der Initiative genau untersuchen. Der vorliegende Initiativtext löst nämlich eine Kaskade von juristischen und politischen Folgen aus, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Es ist daher wichtig, sie gut zu verstehen, um die Auswirkungen abschätzen zu können.
Die Initiative spricht nur von der Personenfreizügigkeit. In Wirklichkeit aber würde sie unser ganzes Verhältnis zu Europa auf den Kopf stellen.
2 Die vier Dominosteine des „Swissexit“
Wieder einmal probiert die SVP, eine brutale Initiative als gemässigte Reform zu maskieren.
2.1 Dominostein 1: Die Abschaffung der Personenfreizügigkeit
Es ist ein alter Trick: Man wählt einen harmlosen Titel wie „Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)“, der keinen Bezug hat zur Radikalität des Inhalts. Dabei verlangt der vorgeschlagene Verfassungstext nichts anderes als die Kündigung des bestehenden Abkommens über die Personenfreizügigkeit.
Art. 121b Zuwanderung ohne Personenfreizügigkeit
1Die Schweiz regelt die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig.
2Es dürfen keine neuen völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen und keine anderen neuen völkerrechtlichen Verpflichtungen eingegangen werden, welche ausländischen Staatsangehörigen eine Personenfreizügigkeit gewähren.
3Bestehende völkerrechtliche Verträge und andere völkerrechtliche Verpflichtungen dürfen nicht im Widerspruch zu den Absätzen 1 und 2 angepasst oder erweitert werden.
Art. 197 Ziff. 12
12. Übergangsbestimmungen zu Art. 121b (Zuwanderung ohne Personenfreizügigkeit)
1Auf dem Verhandlungsweg ist anzustreben, dass das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit innerhalb von zwölf Monaten nach Annahme von Artikel 121b durch Volk und Stände ausser Kraft ist.
2Gelingt dies nicht, so kündigt der Bundesrat das Abkommen nach Absatz 1 innert weiteren 30 Tagen.
Artikel 197, Absatz 12, lässt keinen Raum für Zweifel. Der bestehende Vertrag über die Personenfreizügigkeit muss weg, entweder 12 Monate nach Annahme der Initiative mittels Verhandlungen mit der EU. Oder sonst einen Monat später durch einseitige Kündigung durch den Bundesrat. Im zweiten Fall sieht der Vertrag vor, dass er 6 Monate nach Einreichung der Kündigung ausser Kraft tritt. Das heisst: Sieben Monate nach Ablauf der Jahresfrist – oder total 19 Monate nach Annahme der Initiative – wird das bestehende Abkommen hinfällig.
19 Monate nach der Abstimmung tritt das Abkommen über die Personenfreizügigkeit automatisch ausser Kraft – ohne Möglichkeit für Aufschub oder Diskussion.
2.2 Dominostein 2: Ende des ersten Pakets der Bilateralen Verträge
Wenn die Personenfreizügigkeit ohne Zustimmung der EU beendet wird, was im Falle der Annahme der Initiative praktisch unvermeidlich sein wird, werden sechs weitere Abkommen fallen.
Die ersten sieben bilateralen Abkommen sind nämlich durch eine formelle Klausel, die so genannte „Guillotine-Klausel“, eng miteinander verbunden.
Anders gesagt: Im Falle einer Annahme der Initiative würde das gesamte Paket an Bilateralen Abkommen aus dem Jahr 1999 verschwinden. Neben der Personenfreizügigkeit würden die folgenden sechs Abkommen ebenfalls ausser Kraft treten:
- Technische Handelshemmnisse
- Öffentliches Beschaffungswesen
- Landwirtschaft
- Landverkehr
- Luftverkehr
- Forschung
Die Schweiz würde auf brutale Weise das erste Paket der Bilateralen Verträge verlieren, die seit 20 Jahren sehr gut funktioniert haben.
2.3 Dominostein 3: Verschwinden der Flankierenden Massnahmen
Als die Freizügigkeit Anfang der 2000er Jahre eingeführt wurde, verhandelten die Sozialpartner über die Einführung von Flankierenden Massnahmen auf dem Arbeitsmarkt. Diese wurden in der Folge entsprechend den Erweiterungen der Europäischen Union und den Bedürfnissen in der Schweiz verstärkt.
Im Wesentlichen verhindern die Flankierenden Massnahmen, dass skrupellose Unternehmen ihre Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Europa unterbezahlen, indem sie diese entweder in Unternehmen in der Schweiz anstellen oder Aufträge von einem Firmensitz in der Europäischen Union aus in der Schweiz ausführen lassen.
Das Entsendegesetz, das die wichtigsten Aspekte der Flam regelt, legt jedoch formell fest, dass es nur so lange gültig ist, wie das Freizügigkeitsabkommen in Kraft ist.
Ein verstecktes Ziel der Initiative ist die Abschaffung der Flankierenden Massnahmen, die Löhne und Arbeitsbedingungen in der Schweiz schützen.
2.4 Dominostein 4: Wahrscheinliches Ende der Kooperation im Bereich Schengen/Dublin
Formal sind die Kooperationsabkommen in den Bereichen Justiz, Polizei und Asyl nicht an den freien Personenverkehr gebunden. Sie waren als Teil eines zweiten Pakets ausgehandelt worden.
Andererseits würde die Beendigung der Personenfreizügigkeit die dem Schengener Abkommen zugrunde liegende Logik, d.h. die Abschaffung der Kontrollen, die durch eine drastische Verbesserung der polizeilichen Zusammenarbeit ausgeglichen wird, grundsätzlich in Frage stellen. Es ist nicht klar, was aus dieser Vereinbarung wird, wenn die SVP-Initiative angenommen wird. Allerlei Szenarien sind möglich und mehr oder weniger günstig für die öffentliche Sicherheit. Sicher ist, dass die Schweiz gezwungen wäre, ein gut funktionierendes System mit ungewissem Ausgang in Frage zu stellen.
Wenn sich die polizeiliche Zusammenarbeit jedoch verschlechtert oder nicht funktioniert, könnte die Schweiz ziemlich schnell zum Zentrum der Kriminalität in Europa werden. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn die Schweizer Polizei- und Justizbehörden den Zugang zu europäischen Datenbanken verlieren würden. Eine solche Verschlechterung der Sicherheit ist nicht sicher, aber möglich.
Das Ende der Zusammenarbeit im Polizei- und Justizbereich wäre ein Geschenk für kriminelle Organisationen.
3 Das Chaos als einzige Aussicht am Horizont
3.1 Der grosse Sprung in die rechtliche Unsicherheit
Wie wir gesehen haben, käme die Annahme der Initiative einem Sprung in ein rechtliches Vakuum gleich. Und die Radikalität des Textes macht klar, dass es den Status quo nicht mehr geben wird. Vielmehr würden wir einen Rückwärtssalto machen.. Es wird unmöglich, nach vorne zu schauen oder sich am Bestehenden festzuhalten. Es werden rustikalere und begrenztere Systeme gefunden werden müssen als die derzeitigen Bilateralen Abkommen. Wie sollten diese ausgestaltet werden? Wie kann man das Chaos in der Zwischenzeit bewältigen?
Da die Schweiz geographisch von EU-Mitgliedsstaaten umgeben ist, ist es schwer vorstellbar, dass es keine Abkommen über die Zusammenarbeit und die tägliche Interaktion geben soll.
Auf jeden Fall wird es im Nachhinein nicht mehr möglich sein, den Film zurückzuspulen und die Schweiz wieder in einer guten Ausgangslage zu positionieren.
Außerdem sollte man das politische Chaos nicht unterschätzen, das nach einer Zustimmung entstehen könnte. Wie würden die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft reagieren? Bis heute gibt es keinen Konsens über die zukünftige Entwicklung der Beziehungen zur EU. Wie könnte ein Land, das sein europäisches Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen kann, einen so starken Bruch mit seiner Umwelt, seinem kulturellen Fundament und seiner Geschichte bewältigen?
Weil der Initiativtext sehr präzis ist, gibt es nach einer Annahme kein Zurück mehr. Diese Initiative verfolgt die Strategie der verbrannten Erde.
3.2 Verhandlungen mit der Pistole auf der Brust…
Die SVP gibt heuchlerisch vor, dass mit der EU verhandelt werden könne, so dass sie der Abschaffung der Personenfreizügigkeit zustimmen würde. Tatsächlich geht ihr es darum, die Brutalität des Bruchs zu verschleiern. Wohlverstanden – es geht um den Bruch eines Abkommens, das zu einem Paket gehört, welches die Schweiz wollte, welches sie ausgehandelt, unterzeichnet und in einer Abstimmung genehmigt hat.
Diese hypothetische Verhandlung macht vor allem aus folgenden Gründen keinen Sinn:
- Der freie Personenverkehr ist eine der Säulen des europäischen Marktes und einer der Grundwerte des europäischen Projekts. Es ist nicht einzusehen, warum die EU die Abschaffung der Personenfreizügigkeit akzeptieren sollte, während sie gleichzeitig der Schweiz Marktzugang gewährt.
- Dieses Prinzip wird im Zusammenhang mit dem Brexit umso deutlicher. Es ist schwer vorstellbar, dass die EU der Schweiz Zugeständnisse macht, die die Briten später ebenfalls einfordern könnten.
- In dem sehr unwahrscheinlichen Fall, dass Verhandlungen eröffnet werden, ist das Risiko hoch, dass das Ergebnis für die Schweiz viel weniger vorteilhaft sein wird als die geltenden Abkommen.
- Ebenfalls unter der Annahme, dass Verhandlungen eröffnet würden, bestünde praktisch keine Chance, innerhalb weniger Monate ein für beide Seiten akzeptables Ergebnis zu erzielen.
Die von der Initiative festgelegte Frist – 12 Monate, um den Vertrag neu zu verhandeln und zu ratifizieren – ist noch deutlich kürzer als die Fristen beim Brexit. Diese Frist versetzt die Schweiz in eine Position der extremen Schwäche. Die EU könnte der Schweiz sehr unvorteilhafte Bedingungen aufzwingen, weil die Alternative die totale Isolation ist.
Sollte die Initiative angenommen werden, wäre die Schweiz gezwungen, Verhandlungen quasi mit der Pistole auf der Brust aufzunehmen. Damit ist ein schlechtes Ergebnis allfälliger Verhandlungen vorprogrammiert.
4 Die Initiative garantiert keineswegs eine Reduktion der Zuwanderung
Die Initiative der SVP zielt gemäss den Initiantinnen und Initianten auf eine Reduktion der Zuwanderung ab. Aber sie bietet keine Garantie, dass dies erreicht wird. Es ist nicht einmal sicher, dass dies ihr wirkliches Ziel ist.
Die Initianten wollen die Einwanderung nicht explizit verbieten, sondern den freien Personenverkehr durch Einwanderungsquoten ersetzen, wie zu Zeiten der Saisonarbeiter. Daher ist die zentrale Frage, ob die Quoten auf dem derzeitigen Niveau der Einwanderung oder auf einem niedrigeren Niveau festgelegt werden, was im Sinne der Initiative nur logisch wäre.
Ein Blick zurück schafft Klarheit. In der Ära der Saisonarbeiter war die quantitative Frage nie ein Problem. Wenn die Wirtschaft Arbeitskräfte brauchte, bekam sie die gewünschten Quoten ohne Einschränkungen. Damals war die Zuwanderung deutlich höher als heute.
In jüngerer Zeit haben sich sogar Vertreter der SVP gegen Beschränkungen der Quoten für aussereuropäische Arbeitnehmer_innen ausgesprochen. Ein Grundsatz bleibt unverändert: Die Bedürfnisse der Wirtschaft haben Vorrang und werden erfüllt, ungeachtet der fremdenfeindlichen Empörung, die die SVP zu ihrem Geschäft gemacht hat.
An einer Pressekonferenz im Februar 2018 machte die SVP-Führung deutlich, dass es ihr Ziel ist, dass Unternehmen weiterhin Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Europa einstellen können. Sie möchten jedoch, dass sie diese rekrutieren können, ohne die Flankierenden Massnahmen einhalten zu müssen. Die SVP will deshalb den Unternehmen die Möglichkeit geben, Europäerinnen und Europäer zu beschäftigen, um sie schlechter zu bezahlen. Dieses Lohndumping würde eine Einstellung europäischer Arbeitskräfte sehr attraktiv machen. Natürlich mit dem Effekt, die Zahl der Neuankömmlinge zu erhöhen. Und natürlich ist das Lohndumping auch im Sinne des Wirtschaftsflügels der SVP, weil dadurch sämtliche Löhne in der Schweiz sinken würden.
Der Effekt der Initiative wäre darum paradoxerweise eine Ankurbelung der Zuwanderung. Für die Arbeitgeber würde es attraktiver, Personen aus dem Ausland anzustellen, weil Lohndumping erlaubt wäre. Und wir können davon ausgehen, dass die Wirtschaftsführer aus den Kreisen der SVP intensiv für grosszügige Kontingente lobbyieren würden. Die Personenfreizügigkeit hat das Lohndumping reduziert. Ihre Abschaffung würde es wieder anheizen.
Die Initiative begünstigt eine Zuwanderung, die nicht die Bedürfnisse des Landes oder der Menschen im Zentrum hat, sondern das Lohndumping.
5 Die Initiative schafft eine Vielzahl neuer Probleme
Es gibt natürlich einen Fall, in welchem die Initiative die Zuwanderung tatsächlich reduzieren würde: Und zwar wenn die Initiative eine Rezession auslöst und Arbeitsplätze vernichtet. Es ist logisch: Wenn die Wirtschaft in der Krise ist, sinkt auch die Zuwanderung. Dieses Negativszenario ist leider nicht ausgeschlossen.
5.1 Rückgang der Exporte und im Tourismus verschlimmern die Rezession
Die Folgen der Corona-Krise treffen die Exportwirtschaft und den Tourismus hart. Die Kündigungsinitiative würde diesen Effekt noch verstärken und noch mehr Arbeitsplätze kosten.
Die Corona-Pandemie wird den Export von Investitionsgütern in andere Kontinente noch während Jahren erschweren. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von internationalen Firmen werden von Quarantäne-Massnahmen betroffen sein. Es wird schwierig werden, Schweizer Produkte in entfernte Länder zu exportieren, wenn der globale Güterverkehr reduziert ist. Und schliesslich werden die Touristen aus Asien oder Amerika nur sehr langsam wieder zurückkommen.
In diesem Kontext werden die Geschäftsbeziehungen mit unseren Nachbarstaaten wichtiger werden, gerade für die Exportwirtschaft und den Tourismus. Allerdings würde der Wegfall der Bilateralen I den Export deutlich erschweren. Es bliebe dann nur noch das Freihandelsabkommen von 1972.
Dieses ist allerdings bei weitem nicht auf der Höhe der heutigen Wirtschaftsbeziehungen und wird der sozio-ökonomischen Verflechtung der Schweiz mit Europa nicht gerecht. Ohne Handelsabkommen könnten sich die Schweizer Unternehmen nur auf die sehr einfachen WTO-Standards berufen. Die Schweiz hätte den gleichen Zugang zum europäischen Markt wie Indonesien oder Kenia. Ein weiteres Hemmnis: Die Zulassung von Produkten in der Schweiz wäre nicht mehr automatisch auch in der EU gültig. Exportfirmen müssten also den ganzen Prozess zweimal machen – einmal in der Schweiz und einmal im EU-Raum.
Ausserdem hätte der Schweizer Tourismus grosse Nachteile, wenn die Schengen-Visa nicht mehr gültig wären. Die Schweiz würde sich von ihren Nachbarn abkoppeln, obwohl genau von dort die Touristen kommen, auf welche die Branche angewiesen wäre.
Aus ideologischen Gründen bewerten die SVP-Chefs den Freihandel mit China oder den USA höher als solide Beziehungen mit unseren europäischen Nachbarn. Das können sie von mir aus machen. Aber die Corona-Krise hat auf brutale Art und Weise gezeigt, wie krisenanfällig diese Vorstellung ist. Die Strategie, nur auf Übersee zu setzen, wird als sehr riskant entlarvt, während allen klar wird, dass eine gute Zusammenarbeit mit den Ländern auf dem eigenen Kontinent unverzichtbar ist.
Arbeitsplätze zu vernichten ist eine effektive Methode, um zu verhindern, dass sie von Europäer_innen besetzt werden. Aber diese Arbeitsplätze fehlen dann auch für die Waadtländer_innen oder für die Thurgauer_innen.
5.2 Die Situation auf dem Arbeitsmarkt würde sich verschlechtern
Die Flankierenden Massnahmen haben sehr viel dazu beigetragen, dass der Schweizer Arbeitsmarkt heute gut funktioniert. Er ist heute viel besser kontrolliert und Tieflöhne oder Schwarzarbeit gibt es deutlich weniger als noch vor 20 Jahren. Der Wegfall der Flankierenden Massnahmen als Folge der Annahme der Initiative würde die Arbeitsbedingungen in der Schweiz darum massiv verschlechtern.
Die Annahme der Initiative wäre eine Einladung zum massiven Lohndumping, welches die Ressentiments auf dem Arbeitsmarkt verstärken würde. Die SVP zielt damit auf eine aktive Bewirtschaftung ihrer Kernthemen ab. Dadurch würde eine Art politischer Selbstverriegelungsmechanismus geschaffen, der die Schweiz in eine Isolation zu stürzen droht, aus der sie erst nach einer langen Verarmungsphase herauskommen würde.
Dank den Flankierenden Massnahmen können Unternehmen heute die Fachleute, die sie brauchen, in die Schweiz bringen – aber nur unter den hier gültigen Arbeitsbedingungen. Damit wird verhindert, dass die Einwanderung dazu benutzt wird, die Löhne in der Schweiz zu drücken. Sie verhindert die Ausbeutung von Europäerinnen und Europäern, die in der Schweiz arbeiten. Vor allem verändert sie die Art der Einwanderung. Die Schweiz ist aktuell in der Lage, Menschen mit interessanten beruflichen Qualifikationen anzuziehen. Sie kann davon nur profitieren.
Es wird immer Probleme auf dem Arbeitsmarkt geben, aber es ist völlig falsch, sie systematisch der Einwanderung oder dem freien Personenverkehr zuzuschreiben. Jedes Problem ist anders und verdient eine spezifische Lösung. Nur ein Beispiel: Für eine Person, deren anfängliche Ausbildung durch den technologischen Wandel nicht mehr aktuell ist, liegt die Lösung nicht in der Verringerung der Zuwanderung, sondern in der Möglichkeit, in ihrem Beruf neues Wissen zu erwerben oder eine neue Ausbildung zu absolvieren.
Dank den Flankierenden Massnahmen gibt es mehr Gesamtarbeitsverträge und die Sozialpartnerschaft wurde gestärkt. Ihr Wegfall als Folge der Initiative würde die Arbeitsbedingungen in der Schweiz massiv verschlechtern.
5.3 Die Schweiz würde von ihrer natürlichen Umgebung isoliert
Neben den wirtschaftlichen Folgen würde die Schweiz auch sehr stark unter dem plötzlichen Wegfall des Regelwerks leiden, welches die Beziehungen mit der EU strukturiert. Zum Beispiel könnte die Schweiz ohne Forschungsabkommen nicht mehr an europäischen Forschungsprogrammen teilnehmen. Für Schweizer Student_innen würde es sehr schwierig, in Europa zu studieren.
Weitere Probleme: Wir müssten wieder ständige Grenzkontrollen einführen, wir müssten eine Lösung zur Begrenzung des Güterverkehrs über die Alpen finden und wir müssten Polizei und Justiz stark ausbauen, um den Wegfall von Schengen zu kompensieren.
Von schwerwiegenden Problemen bis zu völlig unnötigen Komplikationen – die Liste der Nachteile als Folge einer Isolation ist fast endlos. Aber zum Glück ist die Schweiz noch nicht so weit. Die Annahme dieser europafeindlichen Initiative ist keine Notwendigkeit, sie kann verhindert werden.
Gerade jetzt wie die Corona-Pandemie unsere Beziehungen zu anderen Kontinenten erschwert, wäre es selbstmörderisch, die Schweiz von ihrer natürlichen Umgebung abzuschneiden.
6 Die Initiative ist unnötig und bedroht die Freiheit
Die SVP wird wahrscheinlich behaupten, dass der Bruch mit der EU der Preis für die Beseitigung der Einwanderung ist – der Quelle allen Übels. Zwei Richtigstellungen sind darum nötig:
6.1 Die Schweiz profitiert massiv von der Zuwanderung
Die Initianten sind nicht fähig, den Wert der Personenfreizügigkeit zu erfassen. Stattdessen sind sie besessen davon, die Zuwanderung politisch zu instrumentalisieren. Darum laufen sie gegen den simplen Fakt Sturm, dass Europäer_innen in die Schweiz kommen, um zu arbeiten.
Aber die Geschichte lehrt uns, dass die Schweiz seit fast einem Jahrhundert ein Einwanderungsland ist. Vom Bau der Staudämme in den 1950er Jahren bis zum heutigen Krankenhauswesen hat die Schweiz enorm profitiert und profitiert immer noch von der Präsenz europäischer Arbeitskräfte. Gerade jetzt hat die Corona-Krise wieder gezeigt, dass das Schweizer Gesundheitswesen ohne Europäer_innen zusammenbrechen würde – seien es Grenzgänger oder Personen, die in der Schweiz leben.
Dieser Gewinn ist nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch kultureller, sportlicher und wissenschaftlicher Natur. Wir können uns nicht vorstellen, wie das Land in so wichtigen Bereichen wie dem Gesundheitswesen, dem Baugewerbe, dem Gastgewerbe, dem Tourismus, der Industrie und der Forschung ohne Zuwanderung funktionieren soll. Man kann sich nicht vorstellen, wie die Schweiz unter einer Käseglocke funktionieren soll.
Die Zuwanderung aus Europa ist eine Stärke der Schweiz. Ihre obsessive Instrumentalisierung durch die SVP wird langsam lächerlich und vergiftet die politische Diskussion.
6.2 Die Personenfreizügigkeit ist eine humanistische Errungenschaft
Der freie Personenverkehr ist keine von Europa auferlegte Einschränkung, sondern ein humanistischer Wert, der für alle Menschen, auch für die Schweizerinnen und Schweizer, wertvoll ist. Sie emanzipiert die Menschen von Grenzen. Sie bietet jeder und jedem das Grundrecht, sein Leben frei zu führen, zu studieren, zu arbeiten und sich niederzulassen, wo immer er oder sie will. Sie ermöglichte und ermöglicht es Millionen von Menschen, ihre Lebensbedingungen und die ihrer Familien zu verbessern, indem sie in anderen Ländern als ihrem eigenen leben und ihre Fähigkeiten und Arbeitskräfte einsetzen können.
Zudem machen die Schweizerinnen und Schweizer von dieser Freiheit reichlich Gebrauch. Immer mehr Menschen suchen nach weiteren Horizonten als die der Eidgenossenschaft. Und die meisten von ihnen entscheiden sich dafür, sich in einem Land der Europäischen Union niederzulassen. Im Jahr 2018 lebten beispielsweise 62 % der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in Europa, was 471’000 Personen entspricht.
Hat die SVP über diese halbe Million in Europa lebenden Schweizer Auswanderer und die Folgen eines Vertragsbruchs mit der Union für sie schon einmal nachgedacht? Die Personenfreizügigkeit wird nach wie vor ausschliesslich als ein Vorteil für Zuwandererinnen und Zuwanderer dargestellt, dabei ist sie auch für die Schweizerinnen und Schweizer eine essentielle Freiheit.
Die Personenfreizügigkeit ist eine soziale Errungenschaft! Sie abzuschaffen würde bedeuten, unsere individuelle Freiheit zu beschneiden.
7 Diskreditierung, Unsicherheit und Lähmung
Wenn die Schweiz heute die von ihr selbst geforderten Abkommen aufkündigen würde, würde sie sich in eine Sackgasse manövrieren. Der Bundesrat wäre durch diese Diskreditierung nicht in der Lage, wie 1992 nach Brüssel zu eilen, um das Verständnis der Europäer zu suchen. Denn die SchweizerInnen und Schweizer hätten Europa unmissverständlich den Rücken gezeigt. Isoliert würde die Schweiz zu einem Drittland werden und das Bild eines ungerechten und unzuverlässigen Landes vermitteln.
Wie könnte man diese Nachteile kompensieren? Was könnte an Stelle der Bilateralen Verträge treten? Wie könnten wir wieder solide und produktive Beziehungen mit den 27 Mitgliedsstaaten der EU herstellen? Sollte die Initiative angenommen werden, würde eine Zeit der grossen Unsicherheit in der Schweiz anbrechen, ohne die geringste Gegenleistung.
Ausserdem könnte die Schweiz durch die Europafrage auf Jahre hinaus destabilisiert werden, siehe Grossbritannien. Gespalten, isoliert und unfähig eine Notlösung zu finden, müsste die Schweiz all ihre politische Energie auf dieses Thema verwenden. Wichtige Projekte für das Klima, die Bildung oder die Sozialversicherungen würden vernachlässigt. Zum Risiko des Chaos kommt also jenes der Lähmung.
Seit Beginn dieses Jahrhunderts ist die Welt deutlich gefährlicher geworden. Schwere globale Krisen wiederholen und multiplizieren sich. Egal ob es um Wirtschaft, soziale Frage, Migration, Klima oder Gesundheit geht – diese Herausforderungen treten in einer Zeit auf, in welcher Populismus, Nationalismus und Autoritarismus auf dem Vormarsch sind. In dieser turbulenten Zeit ist eine Sache sicher: Die erste Vorsichtsmassnahme besteht darin, das, was funktioniert, nicht zu zerbrechen, ohne zu wissen, durch was es ersetzt werden soll.
Als Folge der Corona-Krise stehen wir vor einer wirtschaftlichen Rezession und einer Zeit der grossen Unsicherheit in den internationalen Beziehungen. Das ruft nach Vernunft und nicht nach Experimenten. Es wäre selbstmörderisch, die Schweiz zu isolieren und in eine lang andauernde europapolitische Krise zu stürzen.
Zusammengefasst: Die SVP-Kündigungsinitiative schafft wichtige Freiheitsrechte ab, sie beendet den bilateralen Weg abrupt, sie greift die Flankierenden Massnahmen an, sie schwächt die Wirtschaft, sie wirft uns in eine Krise mit Europa. Zudem lähmt sie die Schweizer Politik und schafft eine Vielzahl von weiteren schädlichen Folgen. Sie muss mit einem klaren und bestimmten NEIN abgelehnt werden!