Sans-Papiers sind Personen ohne Aufenthaltsbewilligung, für welche die Schweiz aus unterschied-
lichen Gründen ihren Lebensmittelpunkt darstellt. Gemäss einer Studie des Staatssekretariats für
Migration von 2015 dürften sich im Kanton Bern 1000 bis 6000 Sans-Papiers aufhalten, davon
wahrscheinlich der Grossteil in der Stadt Bern. Der Staat muss gemäss internationalen Vereinba-
rungen (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, UNO-Pakt über wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Rechte») sowie gemäss Bundesverfassung» (Art. 41) für die Gesundheit dieser Perso-
nen sorgen. Dementsprechend bestätigt der Bundesrat, dass das allgemeine Versicherungsobliga-
torium im Bundesgesetz über die Krankenversicherungen» (Art.3) auch Sans-Papiers umfasst und
sie auch Anspruch auf Prämienverbilligung haben. Damit haben diese Personen ein Anrecht auf
eine Leistung der obligatorischen Krankenversicherung bei Krankheit, Unfall und Mutterschaft.
Mangels genügend finanzieller Mittel für eine Krankenkassenprämie und aus Angst aufgedeckt zu
werden, sind höchstens 10-20% der Sans-Papiers krankenversichert, woraus eine deutliche medi-
zinische Unterversorgung resultiert, da der Zugang zur Gesundheitsversorgung ohne Krankenver-
sicherung massiv erschwert ist. Sans-Papiers sind in diesem Bereich also auf die Gesundheitsver-
sorgung für Sans-Papiers (GVSP) des Schweizerischen Roten Kreuzes, welche dem Ambulatori-
um für Folter- und Kriegsopfer angegliedert ist, und auf weitere karitative Angebote angewiesen.
Es kommt auch vor, dass sie sich gezwungen sehen auf Angebote zurückzugreifen, die nicht den
Richtlinien des aktuellsten Forschungsstandes entsprechen oder unprofessionell sind. Dieser Zu-
stand ist unwürdig. Die Gesundheitsversorgung soll nicht Aufgabe von Hilfswerken, einzelner hilfs-
bereiter Personen oder privater Organisationen sein, sondern liegt in der Verantwortung des öffent-
lichen Gesundheitswesens.
Um diesem Notstand begegnen zu können, hat die Stadt Genf 1997 eine staatliche, spitalexterne,
medizinisch-soziale und niederschwellig zugängliche Anlaufstelle geschaffen». Hierbei wurde ein
dreistufiges Versorgungsmodell etabliert, welches sowohl die Gesundheitsversorgung der Sans-
Papiers und anderen Menschen, welche aus verschiedenen Gründen nicht krankenversichert sind,
als auch den effizienten Einsatz vorhandener Ressourcen garantiert. Auf der ersten Stufe treten
die Sans-Papiers mit einem interprofessionellen Team aus Pflege- und Sozialfachleuten in Kontakt.
Erfahrungen aus Genf zeigen, dass hierbei der Hauptanteil der Gesundheitsprobleme der Sans-
Papiers gelöst werden kann. Erst bei Fällen, bei denen es einer spezielleren medizinischen Unter-
suchung bedarf, werden die Sans-Papiers in einem zweiten Schritt an ein medizinisches Ambulato-
rium eines öffentlichen Spitals überwiesen. Dabei kommen ausschliesslich diagnostische und the-
rapeutische Massnahmen zum Einsatz, welche im Rahmen der obligatorischen Grundversicherung
gedeckt werden. Besteht eine Indikation für eine stationäre Behandlung, werden Sans-Papiers in
diesem öffentlichen Spital hospitalisiert.
Die finanzielle Abgeltung der erbrachten sozio-medizinischen Leistungen erfolgt für die Sans-
Papiers ebenfalls stufenweise. Die Dienstleistungen der ersten Stufe sind unentgeltlich. Bei den
ambulanten medizinischen Leistungen beteiligen sich die Sans-Papiers zu 10% an den Tarmed-
Kosten. Für den Fall, dass diese Kosten nicht getragen werden können, steht ein Notfonds zur
Verfügung. Überschreiten die jährlichen Kosten 1000 Franken oder kommt es zu einem stationären
Aufenthalt, dann ist eine Anmeldung bei der Krankenkasse unumgänglich. Diese sollte aus-
schliesslich in Zusammenarbeit mit der Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers oder mit der
Anlaufstelle Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers (GVSP) des Schweizerischen Roten Kreuzes
erfolgen. Zudem zeigen die Erfahrungen, dass der Beizug von interkulturellen DolmetscherInnen
für erfolgsversprechende medizinische Beratungen und Behandlungen oft von grosser Bedeutung
ist.
In Anbetracht des dargestellten gesundheitlichen Versorgungsnotstands ist es angebracht, dass
die Stadt Bern, wie Genf und Zürich, wo eine entsprechende Motion an den Stadtrat überwiesen
wurde, Verantwortung in diesem Bereich übernimmt. Deshalb fordert die vorliegende Motion, dass
in Bern ein Pilotprojekt nach dem Vorbild des Genfer Modells CAMSCO («Consultations Ambula-
toires Mobiles des Soins Communautaires») umgesetzt wird, um sicherzustellen, dass in der Stadt
Bern alle Menschen Zugang zum Gesundheitswesen haben. Dabei ist zu prüfen, ob eine Angliede-
rung an bereits bestehende Strukturen (z.B. GVSP), zu denen von Seiten der Sans-Papiers bereits
ein Vertrauensverhältnis besteht, möglich ist.
Der Gemeinderat wird beauftragt:
1. Die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um unter Berücksichtigung der bereits vorhande-
nen Strukturen (Gesundheitsdienst Stadt Bern / Gesundheitsversorgung für Sans-Papiers des
Schweizerischen Roten Kreuzes / Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers / Transkulturelle
Sprechstunde der Universitären Psychiatrischen Dienste / Übersetzungsdienste) ein Konzept
für die Umsetzung eines Projekts nach dem Genfer Modell zu erstellen.
2. Gestützt auf dieses Konzept ein zweijähriges Pilotprojekt zu realisieren und die Wirkungen zu
evaluieren.