Der Regierungsrat wird wie folgt beauftragt:
- In der anstehenden Evaluation der Umsetzung der Neuorganisation im Asylwesen im Kanton Bern (NA-BE) müssen die Umsetzung der Kinderrechte und die Wahrung der besonders schützenswerten Interessen von Kindern und Jugendlichen explizit überprüft werden. Es ist nach Asylstatus (inkl. Status S) und Wohnsituation zu differenzieren.
1.1 Begleitete Kinder und Jugendliche in Asylzentren
1.2 Begleitete Kinder und Jugendliche in Rückkehrzentren
1.3 Begleitete Kinder und Jugendliche in Privatunterbringung
1.4 Unbegleitete Kinder und Jugendliche
- Die Evaluation soll neben Zahlen auch eine qualitative Beurteilung enthalten, die bewusst an Einzelfällen, insbesondere Kinder und Familien, die Wirkung von NA-BE und Herausforderungen bei der Umsetzung aufzeigt.
- Die Rolle der Freiwilligen, ihre Arbeitsleistung und der Einbezug im Auftrag an die regionalen Partner bei der Begleitung von Familien und Kindern sind in der Evaluation zu beurteilen.
- Für die Evaluation ist eine qualifizierte externe Fachorganisation beizuziehen.
Begründung:
In ihrer Medienmitteilung[1] vom 21. Oktober 2024 zieht die GPK eine durchzogene Bilanz bei der Wirkung von NA-BE und macht Empfehlungen zur anstehenden, vom Regierungsrat geplanten Evaluation im kommenden Jahr. Sie empfiehlt dem Regierungsrat, bestimmte Aspekte wie die finanziellen Anreize für die regionalen Partner und die Langzeitnothilfe genauer zu untersuchen.
Der aktuelle Bericht[2] des Marie-Meyerhofer-Instituts für das Kind im Auftrag der eidgenössischen Migrationskommission (EKM) zeigt gravierende Verletzungen der Kinderrechte im Schweizer Nothilferegime. Ungeeignete Wohnsituation, eingeschränkte Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten, Nichtumsetzen der Mitspracherechte u. a. beeinträchtigen das Leben der Kinder und Jugendlichen und gefährden ihre psychische und körperliche Gesundheit und Entwicklung.
Die eidgenössische Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) hat 2019 die Unterbringung und Lebenssituation von Kindern in den Rückkehrzentren im Kanton Bern kritisiert. Mit der Führung der Rückkehrzentren Enggistein, Aarwangen und Bellelay zur Unterbringung von Familien und allein reisenden Frauen beabsichtigte der Kanton Bern zwar eine Verbesserung. Bei der Umsetzung deutet vieles darauf hin, dass die Rechte der Kinder aber weiterhin verletzt werden. Es bestehen z. B. nicht genügend geeignete Räume und Rückzugsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche. Kinder erleben ständige Kontrolle und regelmässig polizeiliche Zwangsmassnahmen bei Ausschaffungen direkt mit. Und es gibt Hürden beim Schulbesuch, insbesondere für Jugendliche. Die psychische Belastung von Kindern und Familien ist hoch, der Zugang zu notwendigen Therapien ist schwierig. Trotz Meldungen und Anfragen von verschiedener Seite zur Situation in den Rückkehrzentren verkennt der Regierungsrat die besondere Vulnerabilität von Kindern in der Nothilfe und bezeichnet ihre Situation in den RKZ im Kanton Bern regelmässig als gut.
Diese Diskrepanz in Wahrnehmung und Beurteilung der Situation von Kindern und Jugendlichen zur effektiven Umsetzung der Kinderrechte und einer kindgerechten Lebenssituation muss daher zwingend in der Evaluation des Systems NA-BE geklärt und beurteilt werden. Besondere Beachtung verdienen dabei Kinder und Jugendliche in Langzeitnothilfe.
Die GPK bemängelt in ihrer Medienmitteilung zudem die ungenügende Datenqualität zur Beurteilung der Wirksamkeit von NA-BE und empfiehlt Verbesserungen im Informatiksystem von Direktionen und regionalen Partnern. In die Bewertung des Wegweisungsvollzugs muss die Situation der ausgewiesenen Personen einfliessen. Vulnerable Personen, Kinder, schwangere Frauen, Eltern in stationärer psychiatrischer Behandlung müssen in der statistischen Beurteilung ausgewiesen werden. Wir fordern deshalb ergänzend zur Zahlenstatistik eine qualitative Beurteilung, die bewusst an Einzelfällen, insbesondere Kinder und Familien, die Wirkung von NA-BE und Herausforderungen bei der Umsetzung aufzeigt. Nur so können differenzierte Schlüsse gezogen und Verbesserungen eingeleitet werden.
Freiwilligenarbeit ist ein wichtiger Bestandteil des Systems NA-BE, sowohl in der Nothilfe wie im Asylwesen. Die Praxis zeigt aber, dass das Potential, das in der Zusammenarbeit mit Freiwilligen steckt, wenig bewusst, konstruktiv und kooperativ genutzt wird. Gerade was Arbeitsmarktintegration und den Spracherwerb von Eltern und insbesondere Müttern anbelangt, ist die «Ressource FW» mit ihrem lokalen Bezug und ihrer Motivation keinesfalls ausgeschöpft. Freiwillige fühlen sich oft nicht als Ressource, sondern als Störfaktor wahrgenommen.
Für eine aussagekräftige Evaluation ist es notwendig, Freiwilligenorganisationen im Asyl und Rückkehrbereich zu ihrer Zusammenarbeit mit den regionalen Partnern und den kantonalen Behörden anzuhören, und sie nicht nur von «oben» zu beurteilen.
Die aus Sicht der GPK durchzogene Zwischenbilanz nach der Neustrukturierung des Asylwesens sowie die unterschiedlichen Einschätzungen zur Erfüllung der Kinderrechte und der Wohnsituation von Familien mit negativem Asylentscheid durch Regierung und Fachorganisationen machen eine sorgfältige und neutrale Evaluation von NA-BE zwingend. Deshalb soll eine fachliche Begleitung durch eine qualifizierte Organisation für sozialpolitische Studien beigezogen werden. Mit der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit oder verschiedenen qualifizierten Berner Beratungsunternehmen besteht hier eine gute Auswahl.
[1]https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=725c823e-4c70-4593-9817-f438c74af22d
[2] EKM fordert besseren Schutz für Kinder in der Nothilfe. https://www.ekm.admin.ch/ekm/de/home/die-ekm/mm.msg-id-102569.html